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Winterreise

Winterreise

Titel: Winterreise
Autoren: Gerhard Roth
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Straße hinunter, und das einzige, was sich bewegte, waren ihre Schatten. Eine elektrische Oberleitung und Schienen verloren, sich in der Ferne, ohne daß eine Straßenbahn auftauchte. Kein Auto fuhr die Straße hinunter. Das also war das Ziel. Der Zeppelin schwebte still am Himmel. Vom Hafen her war kein Geräusch zu hören. Die Straße schien endlos lang. In der Ferne entdeckte er einen abgestellten grünen Kühlwagen, auf den ein Fisch gemalt war. Der Platz hinter dem Lenkrad war leer. Er ging schneller und drehte sich wieder nach dem Zeppelin um und erkannte, daß es nicht der Himmel war, vor dem der Zeppelin schwebte, sondern der Vesuv, der sich zart und dunkel vom Himmel abhob. Seine Spitze schien von der Sonne oder einem Wolkenschleier bedeckt. Was er sah, kam ihm wie eine Erinnerung vor. Das endlose Gehen auf der Straße, die Gebäude, die Schiffsschlote über den Gebäuden, die Ziegelmauer, die elektrische Leitung und die Schienen, das abgestellte Auto, der Zeppelin, alles war ihm bekannt. Er mußte irgendwann einmal hier gewesen sein. Während er rasch weiterging, fiel ihm der Anblick der Erde im All ein. Er dachte daran, wie er mit Anna geschlafen hatte, wie sein Glied in ihr verschwunden und wieder herausgeglitten war, als sie auf ihm gesessen war. »Es ist so traurig hier«, sagte Anna plötzlich. Der Zeppelin war jetzt ganz klein, ein schwebender Lichtpunkt, und der Vesuv stand über ihm wie eine dunkle Welle.
10
    Endlich kam eine gelbe Straßenbahn mit singendem Geräusch angefahren, gleich darauf fuhr ein Mann auf einem Fahrrad vorbei. »Ich bin niemand«, dachte Nagl. »Ich war ein Mensch, jetzt bin ich keiner mehr. Ich will auch kein Mensch mehr sein. Darum kommt es mir vor, daß ich alles schon einmal erlebt habe, weil ich einmal ein Mensch war und als Mensch hierhergekommen bin. Wenn ich noch ein Mensch wäre, müßte ich mich ans offene Fenster stellen und mit einem Gewehr auf die Leute schießen, die vorbeigehen. Ich bin niemand. Ich kann die Erde von außen sehen, wann ich will. Ich kann in einer Nacht, im Schlaf in einem fremden Land sein, unter fremden Menschen. Ich weiß, wie das Ende der Erde sein wird. Die Erde wird eine große, ewige Wüste sein. Nichts mehr wird an einen Menschen erinnern, kein Baum, kein Bach, keine Blume, kein Tier wird eine Spur zurücklassen. Ich kann es sehen. Die Menschen sind nicht gut. Die Zukunft ist ein Scheißdreck. Die Vergangenheit ist ein Scheißdreck. Die größten Verbrecher sind die, die wirklich an die Zukunft glauben und sich nicht nur zur Wehr setzen. Ich bin niemand. Ich habe alles erfunden, was ich sehe. Diese Straße, den Vesuv, Anna, die Schiffe, alles habe ich erfunden. Vielleicht hat sich der Gendarm nicht in die Hand geschossen, sondern mir in die Brust?« Er dachte an die Kinder in der Schule und sie taten ihm leid. Vor Rührung zog es ihm die Kehle zusammen.
    Der Wind zerzauste seine Haare. Die Straße wurde jetzt belebter. Auf einmal wollte Nagl das Meer nicht mehr sehen. Es kam ihm sogar richtig vor, daß er das Meer nicht gesehen hatte. Vielleicht war es auch das richtigste, diese Hafenstraße hinauf und hinunter zu spazieren und mit Anna in Hotelzimmern zu schlafen. Oder einfach Neapel von allen Seiten zu durchqueren, bis ihnen das Geld ausging.
    Anna blieb stehen und fragte ihn, was mit ihm sei, und als Nagl sie nur anschaute, sagte sie, er sei komisch. Sie gingen weiter. »Eigentlich gefällt es mir an dir«, sagte sie, »an einem anderen Mann würde mir das nicht gefallen, an dir aber schon.« Sie warf ihm einen Blick aus den Augenwinkeln zu und lachte. Ein Pferdelastwagen kam ihnen entgegen, voll beladen mit Melonen. Das Pferd war braun und hatte einen weißen Fleck auf der Nase. Es war schon alt, und der Kutscher nahm eine Peitsche und schlug es. Das Pferd ging gleichmütig weiter. Automatisch dachte Nagl an die Schule, die Kinder, den Schulinspektor, an sein eigenes Leben. Die Ziegelmauer auf der rechten Seite hörte auf, die Straße wurde breiter, und hinter einer Straßenkreuzung begannen Häuser. Zwei Matrosen mit schmutzig weißen Käppis und blauen Hemden kamen ihnen entgegen. Einer schälte eine Orange ab und warf ihm die Schale hin, der andere lachte. Im nächsten Augenblick stürzte Nagl, da ihm ein Bein gestellt worden war. Er fuhr mit der Hand zur Nase und sah Blut an den Fingern. Das Blut tropfte auf den Asphalt, er hörte Anna schreien, spürte ihre Arme, rappelte sich auf und stand schwankend da. Es waren zwei
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