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Winterjournal (German Edition)

Winterjournal (German Edition)

Titel: Winterjournal (German Edition)
Autoren: Paul Auster
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völlig wahllos auftretenden Zwischenfällen dieser Art im einen oder anderen Auge in den vergangenen Monaten, und jedes Mal geschieht es im Schlaf, was bedeutet, dass du nichts vorbeugend dagegen unternehmen kannst (da die vom Augenarzt verschriebene Salbe keinerlei Wirkung hatte), und wenn du an solchen Morgen wieder einmal mit einem Riss in der Hornhaut aufwachst, leidest du grausame Schmerzen, denn das Auge ist fraglos der empfindlichste und verletzlichste Teil des ganzen Körpers, und nachdem du die schmerzstillenden Tropfen genommen hast, die der Arzt dir für solche Notfälle verschrieben hat, dauert es gewöhnlich zwei bis vier Stunden, ehe der Schmerz sich zu legen beginnt, und in diesen Stunden kannst du nichts tun, nur reglos herumsitzen, mit einem kalten Waschlappen auf dem betroffenen Auge, das du zuhalten musst, weil jeder Versuch, es zu öffnen, sich anfühlt, als würde dir eine Nadel hineingestochen. Also: erst sechs zermürbende Monate nach einer Thrombose, dann ein chronisches
trockenes Auge
, und dann, nur zwei Tage nach dem Tod deiner Mutter, die erste ausgewachsene Panikattacke deines Lebens, gefolgt von etlichen weiteren an den Tagen unmittelbar darauf, und seit einiger Zeit hast du das Gefühl, dass du dich auflöst, dass du, einst ein unverwüstlicher Kraftprotz, der sämtliche Attacken von innen und von außen abzuwehren vermochte, immun gegen die physischen und psychischen Nöte, die den Rest der Menschheit bedrängen, überhaupt nicht mehr stark bist und rapide zu einem kraftlosen Wrack zerfällst. Dein Hausarzt hat dir Medikamente gegen die Panikattacken verschrieben, und vielleicht beeinträchtigen die an diesem Nachmittag dein Fahrvermögen, auch wenn dir das unwahrscheinlich vorkommt, da du schon öfter mit diesen Pillen im Blut Auto gefahren bist und weder du noch deine Frau jemals einen Unterschied bemerkt habt. Beeinträchtigt oder nicht, du hast die Mautstation an der Triborough Bridge hinter dir und hast die letzte Etappe deines Heimwegs angetreten, und während der Fahrt durch die Stadt denkst du weder an deine Mutter noch an deine Augen, weder an dein Bein noch an die Pillen, die du schluckst, um deine Panikattacken in Schach zu halten. Du denkst ausschließlich an das Auto und die vierzig oder fünfzig Minuten, die du noch bis zu eurem Haus in Brooklyn brauchst, und jetzt, wo deine Frau sich beruhigt hat und sich wegen deiner Fahrerei keine Sorgen mehr zu machen scheint, bist auch du ruhig, und nichts Ungewöhnliches geschieht, während du die Meilen von der Brücke zu den Außenbezirken deines Viertels hinter dich bringst. Es stimmt, du musst pinkeln, deine Blase signalisiert dir das schon seit zwanzig Minuten und mit zunehmender Verzweiflung, und daher fährst du ein wenig schneller, als du vielleicht solltest, denn jetzt hast du es doppelt eilig, dein Zuhause zu erreichen, zum einen natürlich, weil es dein Zuhause ist und du endlich aus dem stickigen Auto herauskommen wirst, zum anderen aber auch, weil du dann die Treppe zum Bad hinaufrennen und dich erleichtern kannst, aber obwohl du ein wenig hektischer fährst als nötig, geht alles gut, und inzwischen bist du nur noch zweieinhalb Minuten von der Straße entfernt, in der du wohnst. Das Auto rollt die Fourth Avenue entlang, eine hässliche Zeile baufälliger Wohnhäuser und leerstehender Lagerhallen, und da Fußgänger sich in dieser Gegend nur selten blickenlassen, brauchen Autofahrer kaum damit zu rechnen, dass jemand die Straße überquert, zumal die Ampeln hier länger grün bleiben als an den meisten anderen Straßen, was dazu verführt, schnell zu fahren, zu schnell, oft weit über dem Tempolimit. Solange man geradeaus fährt, ist das kein Problem (deswegen hast du schließlich diese Route gewählt: weil sie dich schneller nach Hause bringt als alle anderen), aber wenn man links abbiegen will, kann der Gegenverkehr gefährlich werden, da man bei Grün abbiegen muss, und wenn die Ampel für dich grün ist, ist sie es auch für die Autos, die dir entgegenkommen. Jetzt, an der Kreuzung Fourth Avenue und Third Street, wo du nach links abbiegen musst, um dein Haus zu erreichen, hältst du an und wartest auf eine Lücke, und plötzlich vergisst du, was du von deinem Vater gelernt hast, als er dir vor fast vierzig Jahren das Autofahren beigebracht hat. Er selbst war ein schlechter, ein miserabler Fahrer, ein unaufmerksamer Träumer, der jedes Mal das Schicksal herausforderte, wenn er den Schlüssel in die Zündung steckte,
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