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Winterjournal (German Edition)

Winterjournal (German Edition)

Titel: Winterjournal (German Edition)
Autoren: Paul Auster
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aber bei all seiner Unzulänglichkeit hinterm Steuer besaß er ausgezeichnete pädagogische Fähigkeiten, und der beste Rat, den er dir je gegeben hat, war der: Fahr defensiv; geh davon aus, dass alle anderen auf der Straße dumm und verrückt sind; fühl dich niemals sicher. An diese Worte hast du dich immer gehalten, sie haben dir in all den Jahren gute Dienste geleistet, jetzt aber, entweder weil du es kaum noch erwarten kannst, deine Blase zu leeren, oder weil ein Medikament dein Urteilsvermögen trübt oder weil du müde bist und nicht genug aufpasst oder weil du zu einem
kraftlosen Wrack
geworden bist, entscheidest du dich impulsiv, etwas zu riskieren, oder anders gesagt, offensiv zu werden. Ein brauner Lieferwagen kommt auf dich zu. Er fährt schnell, ja, aber nicht schneller als siebzig Stundenkilometer, denkst du, höchstens achtzig, und nachdem du die Entfernung zwischen dir und dem Lieferwagen in Bezug auf seine Geschwindigkeit abgeschätzt hast, bist du dir sicher, problemlos nach links abbiegen und die Kreuzung hinter dich bringen zu können – freilich nur, wenn du entschlossen handelst und
jetzt
Gas gibst. Deine Berechnungen fußen auf der Annahme, dass der Lieferwagen siebzig oder achtzig Stundenkilometer draufhat, was jedoch nicht den Tatsachen entspricht. Er fährt schneller, mindestens neunzig, vielleicht sogar hundert, und daher ist er, kaum dass du das Steuer nach links gerissen und über die Kreuzung zu jagen begonnen hast, plötzlich und unerwartet ganz nah, und da dein Blick nach vorn und nicht nach rechts gerichtet ist, siehst du den Lieferwagen nicht auf dich zurasen und in dein Auto krachen – ein Treffer im Winkel von neunzig Grad, exakt in die Vordertür der Beifahrerseite, der Seite, auf der deine Frau sitzt. Ein kolossaler, massiver, verheerender Aufprall – eine Explosion, laut genug für das Ende der Welt. Du fühlst dich, als habe Zeus auf dich und deine Familie einen Blitz geschleudert, und eine Sekunde später kreiselt das Auto völlig außer Kontrolle die Straße hinunter, bis es an einen Laternenpfahl knallt und abrupt zum Stehen kommt. Dann ist alles still, das ganze Universum ist in Stille gehüllt, und als du endlich wieder denken kannst, ist dein erster Gedanke der, dass du überlebt hast. Du drehst dich zu deiner Frau herum und siehst, ihre Augen sind offen, sie atmet und hat folglich ebenfalls überlebt, und dann drehst du dich nach deiner Tochter auf der Rückbank um, und auch sie hat überlebt, der Doppelschlag von Lieferwagen und Laternenpfahl hat sie aus dem Schlaf gerissen, und jetzt sitzt sie da und sieht dich mit großen verwirrten Augen an, ihre Lippen so weiß wie das Papier, auf dem du gerade schreibst, und du begreifst, die Decken und Kissen, auf denen sie geschlafen hat, haben sie gerettet, und gerettet hat sie auch, dass Muskeln im Schlaf vollkommen entspannt sind, weshalb sie sich nichts gebrochen hat, ihr Kopf ist an nichts Hartes geschlagen, sie wird es überleben, sie hat es überlebt, genau wie der Hund, der ebenfalls auf den Decken und Kissen geschlafen hat. Dann wendest du dich wieder deiner Frau zu, die der Wucht des Aufpralls am nächsten gewesen war, und als du sie so still, so stumm, so entrückt von ihrer Umgebung, da neben dir sitzen siehst, wächst in dir die Furcht, sie könnte sich den Hals gebrochen haben, ihren langen schlanken Hals, den schönen Hals, der das Wahrzeichen ihrer außerordentlichen Schönheit ist. Du fragst sie, wie es ihr geht, ob sie Schmerzen hat, und wenn ja, wo, und es gelingt ihr zwar, dir zu antworten, aber so matt, mit so leiser Stimme, dass du ihre Worte nicht hören kannst. Inzwischen nimmst du Geräusche außerhalb des Autos wahr, draußen tut sich etwas, mehrere Dinge zugleich, am vernehmlichsten das Kreischen der Fahrerin des Lieferwagens, die wütend auf der Straße herumspringt und dich als Verursacher des Unfalls beschimpft. (Später wirst du erfahren, dass sie keinen Führerschein besaß, dass der Lieferwagen ihr nicht gehörte und dass sie schon mehrmals Ärger mit der Polizei gehabt hatte – daher ihr Zornesausbruch: Sie hatte Angst, mit dem Gesetz in Konflikt zu geraten –, aber als sie jetzt da steht und dich anbrüllt, bist du entsetzt über ihre Selbstsucht, fassungslos, dass sie nicht als Erstes fragt, ob mit dir und deiner Familie alles in Ordnung ist.) Wie zum Ausgleich für die hässliche Aufführung dieser Frau (die, mit deinem Vater zu sprechen, dumm und verrückt ist) geschieht nun ein
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