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Winterjournal (German Edition)

Winterjournal (German Edition)

Titel: Winterjournal (German Edition)
Autoren: Paul Auster
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, Kieslowskis
Rot
 – um nur einige deiner Lieblingsfilme zu nennen), fällt dir kaum ein anderer europäischer Schauspieler ein, dessen Arbeit du mehr bewunderst. Du fühlst dich ihm auch innerlich sehr verbunden, denn du weißt von dem grausamen Mord an seiner Tochter, der vor einigen Jahren durch alle Medien ging, und kannst den entsetzlichen Schmerz, den er erlitten hat, den er immer noch erleidet, nur zu gut nachempfinden. Wie viele andere Schauspieler, die du kennst und mit denen du gearbeitet hast, ist Trintignant ein scheuer und in sich gekehrter Mensch. Nicht dass er schroff und unfreundlich wirkt, im Gegenteil, zugleich aber ist er verschlossen, ein Mann, dem es schwerfällt, mit anderen zu reden. Jetzt sitzt ihr zwei auf der Bühne und probt für die Lesung am Abend, allein in der großen Kirche oder ehemaligen Kirche, wo die Veranstaltung stattfinden soll. Trintignants Timbre beeindruckt dich, seine wohltönende Stimme, das gewisse Etwas, das große Schauspieler von lediglich guten unterscheidet, und es bereitet dir enormen Genuss, die Worte, die du geschrieben hast (nein, nicht ganz deine Worte, sondern deine Worte in einer anderen Sprache) von dieser außerordentlichen Stimme gesprochen zu hören. Einmal dreht Trintignant sich unvermittelt zu dir herum und fragt, wie alt du bist. Siebenundfünfzig, sagst du, und nach kurzem Zögern fragst du ihn, wie alt er ist. Vierundsiebzig, antwortet er, worauf ihr euch, abermals nach kurzem Zögern, wieder an die Arbeit macht. Nach der Probe wartet ihr in einem Raum irgendwo in der Kirche, bis das Publikum Platz genommen hat und die Vorstellung beginnen kann. In dem Raum sind auch andere Leute, verschiedene Mitarbeiter des Verlags, der deine Bücher herausbringt, der Veranstalter des Abends, namenlose Freunde von Leuten, die du nicht kennst, insgesamt vielleicht ein Dutzend Männer und Frauen. Du sitzt auf einem Stuhl und sprichst mit niemandem, sitzt einfach schweigend da und siehst dir die Leute an, und du bemerkst, auch Trintignant, etwa drei Meter von dir entfernt, sitzt schweigend da, das Kinn in die Hand gestützt, und starrt gedankenverloren den Boden an. Schließlich blickt er auf, sieht dir in die Augen und sagt: «Paul, ich möchte Ihnen etwas sagen. Mit siebenundfünfzig habe ich mich alt gefühlt. Jetzt, mit vierundsiebzig, fühle ich mich viel jünger als damals.» Die Bemerkung verwirrt dich. Du hast keine Ahnung, was er dir damit sagen will, aber du spürst, es ist ihm wichtig, er versucht dir etwas von entscheidender Bedeutung mitzuteilen, und daher bittest du ihn nicht, das genauer zu erklären. Seit fast sieben Jahren nun denkst du immer wieder über seine Worte nach, und obwohl du immer noch nicht ganz sicher bist, was du daraus machen sollst, schimmert gelegentlich etwas auf, winzige Augenblicke, in denen dir der Sinn seiner Worte einzuleuchten beginnt. Vielleicht wollte er einfach nur sagen, dass man mit siebenundfünfzig den Tod mehr fürchtet als mit vierundsiebzig. Oder vielleicht hat er etwas in dir gesehen, das ihn beunruhigt hat: Spuren der schrecklichen Dinge, die dir 2002 zugestoßen waren. Denn Tatsache ist, dass du dich jetzt, mit dreiundsechzig, stärker fühlst als mit fünfundfünfzig. Die Sache mit deinem Bein ist längst vergessen. Du hattest seit Jahren keine Panikattacken mehr, und deine Augen mucken zwar gelegentlich noch auf, aber sehr viel seltener als früher. Ebenfalls festzuhalten: keine Autounfälle mehr, und keine Eltern mehr, um die du trauern müsstest.
     
    Heute vor zweiunddreißig Jahren, also fast auf die Minute genau vor deinem halben Leben, die Nachricht, dass dein Vater in der Nacht zuvor gestorben war, in einer verschneiten Januarnacht wie dieser, eisige Luft, stürmischer Wind, alles wie damals, Zeit, die fortschreitet und doch stillsteht, alles anders und doch alles gleich, und nein, er hatte nicht das Glück, vierundsiebzig zu werden. Sechsundsechzig, und weil du immer geglaubt hast, er werde ein hohes Alter erreichen, hat es dich nie gedrängt, den zeitlebens zwischen euch hängenden Nebel zu lichten, und daher musstest du, nachdem die Tatsache seines plötzlichen, unerwarteten Todes nicht mehr zu bestreiten war, mit dem frustrierenden Gefühl weiterleben, etwas unerledigt gelassen zu haben, erfüllt von dumpfer Enttäuschung darüber, Dinge nicht ausgesprochen, Gelegenheiten für immer verpasst zu haben. Er starb im Bett, beim Liebesspiel mit
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