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Winterjournal (German Edition)

Winterjournal (German Edition)

Titel: Winterjournal (German Edition)
Autoren: Paul Auster
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hochgezogen, sichtbar allein ihr Kopf, und du staunst, wie schön sie aussieht, wie jung sie aussieht, noch jetzt, dreißig Jahre nachdem du zum ersten Mal mit ihr geschlafen hast, nach dreißig Jahren unter einem Dach und in einem Bett.
     
    Wieder schneit es, und während du aus dem Bett steigst und zum Fenster gehst, werden die Zweige der Bäume im Garten weiß. Du bist dreiundsechzig Jahre alt. Dir kommt der Gedanke, dass es auf der langen Reise von der Kindheit nach heute kaum einen Augenblick gegeben hat, an dem du nicht verliebt gewesen bist. Dreißig Jahre verheiratet, ja, aber in den dreißig Jahren davor: wie oft verknallt und verschossen, wie oft Feuer und Flamme, wie oft in fiebrigem Wahn und rasender Verzückung? Vom Anbeginn deines bewussten Lebens bist du ein williger Sklave des Eros gewesen. Die Mädchen, die du als Junge geliebt hast, die Frauen, die du als Mann geliebt hast, jede anders als die anderen, Mollige und Schlanke, Kleine und Große, Intellektuelle und Sportliche, Launische und Gesellige, Weiße, Schwarze und Asiatische: Nichts Oberflächliches hat dir je etwas bedeutet, immer ging es um das innere Licht, das du in ihr entdecktest, den Funken der Einzigartigkeit, das Auflodern von Individualität, und dieses Licht machte sie in deinen Augen schön, und während andere blind sein mochten für die Schönheit, die du in ihr sahst, entbranntest du vor Sehnsucht nach ihr, nach ihrer Nähe, denn weibliche Schönheit ist etwas, dem du nie hast widerstehen können. Das war schon in deinen ersten Schultagen so, im Kindergarten, wo es dir das Mädchen mit dem langen blonden Pferdeschwanz angetan hatte, und wie oft wurdest du von Miss Sandquist bestraft, weil ihr zwei, du und die Kleine, euch in irgendeinem Winkel versteckt und ungezogene Dinge getan hattet, aber diese Strafen bedeuteten dir nichts, denn du warst verliebt, du warst schon damals verrückt nach Liebe, so wie du noch heute verrückt nach Liebe bist.
     
    Das Inventar deiner Narben, insbesondere der in deinem Gesicht, die du jeden Morgen, wenn du dich rasierst oder dir die Haare kämmst, im Badezimmerspiegel sehen kannst. Du denkst selten daran, aber wenn du es tust, begreifst du, es sind Zeichen des Lebens, die verschiedenen in dein Gesicht geschnittenen zerklüfteten Linien sind Buchstaben aus dem geheimen Alphabet, das die Geschichte dessen erzählt, der du bist, denn jede einzelne Narbe ist die Spur einer verheilten Wunde, und jede einzelne Wunde war das Ergebnis einer unerwarteten Kollision mit der Welt – soll heißen, eines Unfalls, also einer Sache, die nicht hätte zu passieren brauchen, denn ein Unfall ist per definitionem etwas, das nicht zu passieren braucht. Zufälle im Gegensatz zu Notwendigkeiten, und heute früh beim Blick in den Spiegel die Erkenntnis, dass alles Leben zufällig ist, ausgenommen die einzige Notwendigkeit, dass es früher oder später zu Ende gehen wird.
     
    Du bist dreieinhalb, und deine fünfundzwanzig Jahre alte schwangere Mutter hat dich zum Einkaufen in ein Warenhaus in Newark mitgenommen. Sie wird von einer Freundin begleitet, der Mutter eines Jungen, der ebenfalls dreieinhalb Jahre alt ist. Irgendwann macht du und dein kleiner Gefährte euch von euren Müttern los und beginnt in dem Laden herumzulaufen. Es ist ein ungeheures offenes Gelände, zweifellos der größte Raum, in dem du jemals gewesen bist, und was für ein Nervenkitzel, durch diese gewaltige Arena toben zu können. Du und der Junge kommt auf die Idee, euch bäuchlings auf den Boden zu werfen und über die glatte Fläche zu gleiten, Schlitten zu fahren ohne Schlitten, könnte man sagen, ein Spiel, an dem ihr solchen Gefallen findet und das euch mit solcher Begeisterung erfüllt, dass ihr immer leichtsinniger werdet, immer waghalsiger in dem, was ihr zu erreichen versucht. Ihr gelangt in einen Teil des Ladens, der gerade umgebaut oder renoviert wird, und ohne auf mögliche Hindernisse zu achten, wirfst du dich abermals auf den Boden und rutschst über die glasglatte Fläche, bis du erkennst, dass du schnurstracks auf eine Werkbank zusegelst. Du glaubst, dem vor dir auftauchenden Holzbein mit einer leichten Drehung ausweichen zu können, übersiehst aber in dem Sekundenbruchteil, der dir zum Kurswechsel bleibt, einen langen Nagel, einen Nagel, der in Höhe deines Kopfs aus dem Holz ragt, und bevor du bremsen kannst, hat sich der Nagel in deine linke Wange gebohrt. Dein halbes Gesicht wird aufgerissen. Sechzig Jahre später hast du an
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