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Winterjournal (German Edition)

Winterjournal (German Edition)

Titel: Winterjournal (German Edition)
Autoren: Paul Auster
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Wucht, dass du wie vom Blitz getroffen zu Boden stürzt. Der Stoß hat im Wesentlichen deinen Kopf getroffen, deine Stirn, aber auch dein Oberkörper hat etwas abbekommen, und während du betäubt und halb ohnmächtig nach Luft schnappend auf dem Rasen liegst, siehst du Blut von deiner Stirn rinnen, nein, nicht rinnen, strömen, und du ziehst dein weißes T-Shirt aus und drückst es auf die stark blutende Stelle, und binnen Sekunden ist das ganze weiße T-Shirt rot. Die anderen Jungen sehen es mit Schrecken. Sie kommen angerannt, sie wollen dir helfen, und jetzt erst verstehst du, was passiert ist. Offenbar war einer von ihnen, ein schlaksiger, gutmütiger Tollpatsch namens B. T. (du erinnerst dich an seinen Namen, wirst ihn hier aber nicht nennen, weil du ihn nicht in Verlegenheit bringen möchtest – falls er noch lebt), von deinen ungeheuer hohen Würfen so beeindruckt, dass er es sich in den
Kopf
setzte, bei deinem Spiel mitzumachen, und, ohne dir zu sagen, dass er auch einmal einen deiner Würfe fangen wolle, in Richtung des herabfallenden Balls losrannte, natürlich den Blick nach oben gerichtet und mit offenem Mund (was muss man für ein Trottel sein, um mit weit offenem Mund zu laufen?), Sekunden später in vollem Galopp mit dir zusammenstieß und seine Zähne geradewegs in
deinen Kopf
rammte. Daher das Blut, das jetzt aus dir strömt, daher die tiefe Wunde über deinem linken Auge. Zum Glück ist es zur Praxis deines Hausarztes nicht weit, sie befindet sich in einem der Häuser am Rand des Parks. Die Jungen beschließen, dich dort hinzubringen, und so gehst du über den Rasen, das blutige T-Shirt an die Stirn gepresst, umringt von deinen Freunden, es mögen vier gewesen sein, vielleicht auch sechs, du weißt es nicht mehr, und dann fallt ihr alle Mann hoch in Dr. Kohns Praxis ein. (Du hast seinen Namen nicht vergessen, sowenig wie du den Namen deiner Kindergärtnerin vergessen hast, Miss Sandquist, oder die Namen aller Lehrer, die du als Junge hattest.) Die Sprechstundenhilfe erklärt dir und deinen Freunden, Dr. Kohn sei mit einem Patienten beschäftigt, und bevor sie aufstehen und dem Arzt sagen kann, es sei ein Notfall eingetroffen, marschierst du mitsamt deinen Freunden, ohne anzuklopfen, ins Sprechzimmer. Dort spricht Dr. Kohn gerade mit einer dicken Frau, die nur mit BH und Slip bekleidet auf dem Untersuchungstisch sitzt. Die Frau stößt einen spitzen Schrei aus, doch kaum sieht Dr. Kohn das Blut aus deiner Stirn quellen, bittet er die Frau, sich anzuziehen und den Raum zu verlassen, schickt auch deine Freunde hinaus und macht sich eilig ans Werk, die Wunde zu nähen. Das ist eine schmerzhafte Sache, denn für eine Betäubungsspritze bleibt keine Zeit, aber du gibst dir alle Mühe, nicht zu schreien, während er mit Nadel und Faden an deiner Stirn hantiert. Ihm gelingt das vielleicht nicht so glänzend wie dem Arzt, der 1950 deine Wange genäht hat, aber letztlich zählt nur der Erfolg: Du verblutest nicht, das Loch in deinem Kopf ist geschlossen. Ein paar Tage später nimmst du an der Abschlussfeier deiner Klasse teil. Man hat dich zum Fahnenträger bestimmt, das heißt, du musst die amerikanische Flagge durch den Mittelgang der Aula tragen und in den Fahnenständer auf der Bühne stellen. Dein Kopf ist mit einer weißen Mullbinde umwickelt, und da manchmal noch Blut aus der genähten Wunde sickert, prangt auf der weißen Binde ein roter Fleck. Nach der Feier sagt deine Mutter, bei deinem Marsch mit der Flagge habe sie an ein Gemälde eines verwundeten Helden aus dem Unabhängigkeitskrieg denken müssen. Du weißt schon, sagt sie, genau wie
The Spirit of ’ 76
.
     
    Was auf dich eindringt, was immer auf dich eingedrungen ist: das Äußere, soll heißen die Luft – oder genauer, dein Körper in der dich umgebenden Luft. Die Sohlen deiner Füße fest auf dem Boden verankert, alles andere aber der Luft ausgesetzt, und genau da fängt die Geschichte an, in deinem Körper, und in diesem Körper wird es auch enden, alles. Fürs Erste denkst du an den Wind. Später, wenn es die Zeit erlaubt, wirst du an Hitze und Kälte denken, an die unzähligen Arten von Regen, die Nebel, durch die du gestolpert bist wie ein Mann ohne Augen, an das wahnsinnige Trommelfeuer des Hagels auf den Dachziegeln des Hauses im Var. Jetzt aber ist es der Wind, der deine Aufmerksamkeit beansprucht, denn die Luft steht selten still, und außer dem kaum wahrnehmbaren Hauch des Nichts, der dich manchmal umstreicht, gibt es
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