Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Winterjournal (German Edition)

Winterjournal (German Edition)

Titel: Winterjournal (German Edition)
Autoren: Paul Auster
Vom Netzwerk:
Mut aufbringen wirst, deine geliebten Zigarillos und zahlreichen Gläser Wein dranzugeben, die dir in all den Jahren so viel Vergnügen bereitet haben, und manchmal denkst du, wenn du das alles zu diesem späten Zeitpunkt aus deinem Leben streichen solltest, würde dein Körper auseinanderfallen, würde dein Organismus einfach aufhören zu funktionieren. Zweifellos bist du ein beschädigter, ein verwundeter Mensch, ein Mann, der von Anfang an eine Wunde in sich herumgetragen hat (warum sonst hättest du dein ganzes Erwachsenenleben damit verbringen sollen, Worte auf Papier zu bluten?), und der Gewinn, den du aus Alkohol und Tabak ziehst, dient dir als Krücke, dein verkrüppeltes Ich aufrecht zu halten und durch die Welt zu tragen.
Selbstmedikation
, wie deine Frau das nennt. Anders als die Mutter deiner Mutter möchte sie dich nicht anders haben. Deine Frau toleriert deine Schwächen, sie schimpft nicht und zetert nicht, und wenn sie sich Sorgen macht, dann nur, weil sie dir ewiges Leben wünscht. Du zählst die Gründe, warum du sie so viele Jahre lang an deiner Seite behalten hast, und das ist sicher einer davon, einer der hellen Sterne in dem ungeheuer großen Sternbild nie nachlassender Liebe.
     
    Natürlich hustest du, besonders nachts, wenn dein Körper sich in der Horizontalen befindet, und in solchen Nächten, in denen die Bronchien noch verschleimter sind als sonst, steigst du aus dem Bett, gehst in ein anderes Zimmer und hustest wie ein Irrer, bis du den ganzen Rotz losgeworden bist. Dein Freund Spiegelmann (der leidenschaftlichste Raucher, den du kennst) pflegt auf die Frage, warum er rauche, regelmäßig zu antworten: «Weil ich gern huste.»
     
    1952 . Fünf Jahre alt, nackt in der Wanne, allein, groß genug jetzt, dich selbst zu waschen, und während du im warmen Wasser auf dem Rücken liegst, macht plötzlich dein Penis auf sich aufmerksam, indem er aus der Wasserfläche taucht. Bis zu diesem Moment hast du deinen Penis stets nur von oben gesehen, wenn du im Stehen auf ihn hinabgeblickt hast, aber aus diesem neuen Blickwinkel, mehr oder weniger auf Augenhöhe, scheint es dir, als habe die Spitze deines beschnittenen Gliedes verblüffende Ähnlichkeit mit einem Helm. Mit einem altmodischen Helm, ähnlich denen, die von Feuerwehrleuten Ende des neunzehnten Jahrhunderts getragen wurden. Die Entdeckung behagt dir sehr, denn in dieser Phase deines Lebens wünschst du nichts sehnlicher, als später einmal Feuerwehrmann zu werden, ein Job, der dir den größten Heldenmut zu erfordern scheint (und das tut er zweifellos), und wie gut passt es da, am eigenen Leib mit einem Minifeuerwehrhelm ausgestattet zu sein, an jenem zentralen Körperteil, der obendrein nicht nur aussieht, sondern auch arbeitet wie ein Schlauch.
     
    Die zahllosen Verlegenheiten, in denen du im Lauf deines Lebens gesteckt hast, die verzweifelten Augenblicke, wo du das dringende, überwältigende Bedürfnis hattest, deine Blase zu leeren, und nirgends ist eine Toilette in Sicht, in einem Verkehrsstau, zum Beispiel, oder in einer U-Bahn, die zwischen zwei Stationen steckengeblieben ist, die Tortur, unbedingt
einhalten zu müssen
. Das ist ein universales Dilemma, von dem nie jemand spricht, aber jeder hat es schon erlebt, jeder hat das durchgemacht, und obwohl es kaum ein komischeres Beispiel für menschliches Leiden gibt als das der platzenden Blase, kannst du darüber nicht lachen oder erst, nachdem du es geschafft hast, dich zu erleichtern – denn welcher über Dreijährige würde sich vor aller Welt in die Hose machen wollen? Deshalb wirst du diese Worte nie vergessen, die letzten Worte, die einer deiner Freunde von seinem sterbenden Vater zu hören bekam: «Merk dir das, Charlie», sagte er, «lass keine Gelegenheit zum Pinkeln aus.» So werden uralte Weisheiten von einer Generation zur nächsten weitergereicht.
     
    Wieder 1952 , du sitzt hinten im Familienauto, dem blauen 1950 er De Soto, den dein Vater am Tag der Geburt deiner Schwester angeschafft hat. Deine Mutter fährt, und ihr seid schon eine Weile unterwegs, von wo nach wo hast du längst vergessen, jedenfalls seid ihr auf dem Rückweg, höchstens noch zehn oder fünfzehn Minuten von zu Hause, und du spürst einen Druck auf der Blase, seit einiger Zeit schon, und er nimmt immer mehr zu, und inzwischen windest du dich auf dem Sitz, die Beine verklemmt, die Hände in den Schoß gepresst, und weißt nicht, wie lange du das noch aushalten wirst. Du sagst deiner Mutter, was los
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher