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Winterjournal (German Edition)

Winterjournal (German Edition)

Titel: Winterjournal (German Edition)
Autoren: Paul Auster
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den Unfall keine Erinnerung mehr. Du erinnerst dich an das Toben und Hinwerfen, nicht jedoch an den Schmerz, nicht an das Blut und nicht an die hektische Fahrt zum Krankenhaus oder an den Arzt, der deine Wange genäht hat. Er habe das glänzend gemacht, hat deine Mutter immer gesagt, und da der traumatische Anblick ihres Erstgeborenen mit halb abgerissenem Gesicht sie zeitlebens verfolgte, hat sie es oft gesagt: Es ging wohl um eine raffinierte Doppelnaht, die den Schaden auf ein Minimum begrenzte und so verhinderte, dass du fürs ganze Leben entstellt geblieben bist. Du hättest ein Auge verlieren können, sagte sie – oder noch dramatischer: Du hättest sterben können. Zweifellos hatte sie recht. Die Narbe ist mit den Jahren blasser und blasser geworden, aber sie ist immer noch da, wenn du nach ihr suchst, und du wirst dieses Glückssymbol (Auge unversehrt! Nicht tot!) mit ins Grab nehmen.
     
    Narben von aufgeplatzten Augenbrauen, eine links und eine rechts, nahezu perfekt symmetrisch, die erste, nachdem du beim Völkerball im Turnunterricht der Grundschule mit Karacho gegen eine Mauer gerannt warst (das mächtig geschwollene Auge, das du tagelang stolz zur Schau trugst und das dich an ein Foto des Boxers Gene Fullmer erinnerte, der damals bei einem Meisterschaftskampf von Sugar Ray Robinson geschlagen worden war), die zweite mit Anfang zwanzig, als du beim Basketball Anlauf zu einem Korbleger nahmst und ein Foul von hinten dich gegen den metallenen Korbpfosten fliegen ließ. Eine weitere Narbe an deinem Kinn, Ursprung unbekannt. Sehr wahrscheinlich in früher Kindheit zugezogen, bei einem Sturz, beim harten Aufprall auf einen Bürgersteig, auf einen Stein, bleibendes Zeichen einer Wunde, das morgens beim Rasieren immer noch sichtbar ist. Keine Geschichte begleitet diese Narbe, deine Mutter hat nie darüber gesprochen (zumindest kannst du dich nicht daran erinnern), und du findest es merkwürdig, wenn nicht regelrecht verwirrend, dass etwas, das man nur
eine unsichtbare Hand
nennen kann, dir diesen Strich auf die Haut gezeichnet hat, dass dein Körper der Schauplatz von Ereignissen ist, die aus der Geschichte ausgelöscht worden sind.
     
    Juni 1959 . Du bist zwölf Jahre alt, und in einer Woche wirst du zusammen mit deinen Klassenkameraden die Grundschule, auf die du seit dem fünften Lebensjahr gegangen bist, nach der sechsten Klasse abschließen. Es ist ein prächtiger Tag, der Inbegriff eines schönen Spätfrühlingstags, die Sonne scheint vom wolkenlosen blauen Himmel, es ist warm, aber nicht zu warm, die Luft nur mäßig feucht, ein leichter Wind regt sich und streicht dir über Gesicht, Hals und nackte Arme. Nach der Schule gehst du mit deinen Freunden zum Baseball in den Grove Park. Der Grove Park ist eigentlich kein Park, eher so etwas wie eine Dorfwiese, ein großes, mit gepflegtem Rasen bedecktes Rechteck, das auf allen vier Seiten von Häusern flankiert wird, ein hübsches Fleckchen, eine der schönsten Stellen in deiner kleinen Stadt in New Jersey, und ihr spielt oft dort, denn ihr liebt Baseball über alles und könnt stundenlang spielen, ohne es jemals satt zu werden. Keine Erwachsenen sind dabei. Ihr stellt eure eigenen Regeln auf und schlichtet eure Streitigkeiten selbst – meist mit Worten, gelegentlich mit Fäusten. Nach über fünfzig Jahren kannst du dich an keine Einzelheiten des Spiels an jenem Nachmittag erinnern, aber eins weißt du noch: Das Spiel ist aus, du stehst allein in der Mitte des Infields und spielst Fangen mit dir selbst, das heißt, du wirfst einen Ball hoch in die Luft und verfolgst seinen Auf- und Abstieg, bis er in deinem Handschuh landet, worauf du den Ball sofort wieder hochwirfst, und jedes Mal fliegt er höher als zuvor, und nach einigen Würfen erreichst du nie da gewesene Höhen, der Ball schwebt jetzt mehrere Sekunden lang in der Luft, der weiße Ball steigt in den klaren blauen Himmel, der weiße Ball fällt in deinen Handschuh, deine gesamte Existenz verliert sich in diesem einfältigen Tun, du bist vollkommen konzentriert, es gibt für dich nichts mehr als den Ball und den Himmel und deinen Handschuh, mit anderen Worten, dein Gesicht ist nach oben gewandt, du schaust hinauf, verfolgst die Flugbahn des Balls und bekommst daher nicht mit, was sich auf dem Boden abspielt, und es spielt sich, während du in den Himmel starrst, auf dem Boden etwas ab, etwas oder jemand kracht unversehens mit dir zusammen, und der Aufprall kommt so plötzlich und mit so enormer
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