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Winterjournal (German Edition)

Winterjournal (German Edition)

Titel: Winterjournal (German Edition)
Autoren: Paul Auster
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ist, und sie fragt, ob du noch zehn Minuten durchhalten kannst. Nein, antwortest du, ich glaube nicht. Von hier bis nach Hause, sagt sie, kann ich nirgendwo ranfahren, also mach einfach in die Hose. Was für ein radikaler Gedanke, was für ein Verrat an deiner hart erarbeiteten männlichen Unabhängigkeit – du kannst kaum glauben, dass sie das gesagt hat. Ich soll in die Hose machen?, fragst du. Ja, mach in die Hose, sagt sie. Ist doch egal. Sobald wir nach Hause kommen, kommen deine Sachen in die Wäsche. Und so geschieht es, dass du dir mit ausdrücklicher Erlaubnis deiner Mutter zum letzten Mal in die Hose machst.
     
    Fünfzig Jahre später, ein anderes Auto, ein nagelneuer Toyota Corolla, ein Mietwagen, da du kein eigenes besitzt. Du bist seit drei Stunden auf dem Heimweg von Connecticut zu deinem Haus in Brooklyn. August 2002 . Du bist fünfundfünfzig Jahre alt und fährst seit deinem siebzehnten Lebensjahr, souverän und umsichtig, jeder, der je mit dir gefahren ist, kennt dich als
guten Fahrer
, fast vierzig Jahre lang unfallfrei hinterm Steuer, von einem einzigen Kratzer am Kotflügel einmal abgesehen. Deine Frau sitzt rechts neben dir, auf der Rückbank schläft eure fünfzehn Jahre alte Tochter (die gerade einen Sommerschauspielkurs an einer Schule in Connecticut beendet hat) auf den Decken und Kissen, die ihr im vergangenen Monat als Bettzeug gedient haben. Hinten schläft auch euer Hund, der struppige Köter, den du und deine Tochter vor acht Jahren von der Straße aufgelesen habt, genannt Jack (nach Jack Wilton, dem Protagonisten von Nashes
Der glücklose Reisende
), und seither ebenso heißgeliebtes wie durchgeknalltes Mitglied der Familie. Deine Frau, die sich über vieles Sorgen macht, hat sich wegen deines Fahrstils niemals Sorgen gemacht, tatsächlich hat sie dich oft dazu beglückwünscht, wie gut du mit den verschiedensten Verkehrssituationen zurechtkommst: andere Autos auf mehrspurigen Highways überholen, zum Beispiel, durch städtische Labyrinthe manövrieren, problemlos die kurvenreichsten Landstraßen meistern. Heute jedoch spürt sie, dass etwas nicht stimmt, dass du dich nicht richtig konzentrierst, dass dein Timing nicht ganz passt, und mehr als einmal hat sie dir schon gesagt, dass du besser aufpassen sollst. Inzwischen solltest du gelernt haben, die Klugheit deiner Frau nicht in Zweifel zu ziehen, denn sie besitzt eine unheimliche Fähigkeit, die Gedanken anderer zu lesen, in die Seelen anderer zu blicken, die verborgenen Unterströmungen jeder menschlichen Situation zu wittern, und immer wieder hast du über ihren treffsicheren Instinkt nur staunen können, aber an diesem Tag äußert sie ihre Unruhe so nachdrücklich, dass sie dir langsam auf die Nerven geht. Ob du nicht ein bekanntermaßen
guter Fahrer
seist?, sagst du. Ob du jemals einen Unfall hattest? Ob du jemals das Leben der Menschen, die dir alles bedeuten, in Gefahr bringen würdest? Nein, sagt sie, natürlich nicht, sie wisse auch nicht, was mit ihr los sei, und als ihr die Mautstation an der Triborough Bridge erreicht, sagst du: Bitte, da sind wir, New York City, fast schon zu Hause, und jetzt verspricht sie, von nun an kein Wort mehr über deine Fahrerei zu sagen. Aber etwas stimmt nicht, auch wenn du nicht bereit bist, das zuzugeben, denn es ist 2002 , und in diesem Jahr hast du so viele böse Überraschungen erlebt, warum also sollten dir nicht auch deine Fahrkünste plötzlich und unerwartet abhandengekommen sein? Am schlimmsten war Mitte Mai der Tod deiner Mutter (Herzinfarkt), ein Schock für dich, nicht weil du nicht weißt, dass Siebenundsiebzigjährige ohne Vorwarnung tot umfallen können, sondern weil sie scheinbar bei guter Gesundheit war und du noch am Tag vor dem letzten Tag ihres Lebens am Telefon mit ihr gesprochen hast, und da war sie guter Dinge, machte Witze und erzählte so komische Geschichten, dass du hinterher zu deiner Frau sagtest: «So glücklich hat sie sich seit Jahren nicht mehr angehört.» Der Tod deiner Mutter war das Schlimmste, aber dann war da auch das Blutgerinnsel, das sich Anfang Februar während eines neunstündigen Flugs nach Kopenhagen in deinem linken Bein bildete, worauf du erst wochenlang flach auf dem Rücken liegen musstest und dann monatelang nur am Stock gehen konntest, zu schweigen von den Scherereien, die du mit deinen Augen hattest, erst der Riss in der Hornhaut deines linken Auges, dann ein paar Wochen später der Riss in der Hornhaut des rechten, gefolgt von weiteren,
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