Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Winterjournal (German Edition)

Winterjournal (German Edition)

Titel: Winterjournal (German Edition)
Autoren: Paul Auster
Vom Netzwerk:
kleines Wunder. Ein Mann kommt die Fourth Avenue herunter, der einzige Fußgänger auf einer Durchgangsstraße, auf der es normalerweise überhaupt keine Fußgänger gibt, und gegen alle Vernunft, gegen alle Logik, gegen alle Behauptungen über den Lauf der Welt trägt dieser Mann weiße Krankenhauskleidung, es ist ein Arzt, ein junger Inder mit glatter brauner Haut und bemerkenswert schönem Gesicht, und als er sieht, was geschehen ist, nähert er sich deinem Auto und beginnt ruhig mit deiner Frau zu sprechen. Da im Fenster kein Glas mehr ist, kann er sich hineinbeugen und mit leiser Stimme auf sie einreden, mit seiner sanften indischen Stimme, und als du ihn all die Standardfragen stellen hörst, die ein Neurologe seinem Patienten stellen würde – Wie heißen Sie? Welches Datum haben wir? Wie heißt der Präsident? –, wird dir klar, er tut das, um zu verhindern, dass sie das Bewusstsein verliert, dass sie in einen schweren Schockzustand verfällt. In Anbetracht der Wucht des Aufpralls überrascht es dich nicht, dass sie momentan keine Farben sehen kann, dass die Welt vor ihren Augen nur in Schwarzweiß erscheint. Der Arzt, kein Trugbild, sondern ein leibhaftiger Mensch (aber wie solltest du ihn nicht für eine gottgesandte Erscheinung halten, gekommen, deine Frau zu retten?), bleibt bis zum Eintreffen von Krankenwagen und Sanitätern an ihrer Seite. Du und deine Tochter und Jack seid unterdessen ausgestiegen, aber deine Frau darf sich nicht bewegen, alle sind besorgt, dass sie sich das Genick gebrochen haben könnte, und während die Feuerwehrleute mit einem Werkzeug, das als
Rettungsschere
bekannt ist, die rechte Vordertür aufschneiden, betrachtest du das zertrümmerte Auto und kannst nicht begreifen, warum ihr alle noch am Leben seid. Das Auto sieht aus wie ein zerquetschtes Insekt. Alle vier Reifen sind platt, auswärtsgespreizt, verbogen, die Beifahrerseite ist eingedrückt, und das Heck, der Teil des Autos, der, wie du jetzt bemerkst, an den Laternenpfahl gekracht ist, ist völlig zerknautscht und hat kein Glas mehr im Fenster. Vorsichtig schnallen die Sanitäter deine Frau auf ein Brett, um sie ruhigzustellen, und schieben sie in einen Krankenwagen, du und deine Tochter kommt in einen anderen, und dann werdet ihr alle auf die Unfallstation des Lutheran Medical Center in Bay Ridge gebracht. Nach zwei CAT -Scans und etlichen Röntgenaufnahmen geben die Ärzte Entwarnung: Deine Frau hat sich nichts gebrochen, Wirbelsäule und Genick sind heil. Glückselig, ihr seid alle glückselig trotz dieser kurzen Begegnung mit dem Tod, und als ihr gemeinsam das Krankenhaus verlasst, erzählt deine Frau kichernd, der für die CAT -Scans zuständige Arzt habe ihr gesagt, ihr Hals sei der vollkommenste, der schönste Hals, den er je gesehen habe.
     
    Seit jenem Tag sind achteinhalb Jahre vergangen, und nicht ein einziges Mal hat deine Frau dir wegen des Unfalls Vorwürfe gemacht. Sie sagt, die Frau im Lieferwagen sei zu schnell gefahren und daher ganz allein für das Unglück verantwortlich. Aber du selbst denkst nicht daran, dich freizusprechen. Ja, die Frau ist zu schnell gefahren, aber das spielt am Ende keine große Rolle. Du bist ein Risiko eingegangen, das du nicht hättest eingehen dürfen, und dieser Fehler erfüllt dich bis heute mit Scham. Deshalb hast du dir nach dem Verlassen des Krankenhauses geschworen, die Fahrerei aufzugeben, deshalb hast du dich seit dem Tag, an dem du um ein Haar deine Familie getötet hättest, nie mehr hinters Steuer eines Autos gesetzt. Nicht, weil du kein Vertrauen mehr zu dir hast, sondern weil du dich schämst, weil dir klar ist, dass du einen beinahe tödlichen Augenblick lang so dumm und verrückt gewesen bist wie die Frau, die in dich reingefahren ist.
     
    Zwei Jahre nach dem Unfall bist du zu einer Lesung aus deinem neuen Buch in der kleinen französischen Stadt Arles. Mit dir wird der Schauspieler Jean-Louis Trintignant auftreten (ein Freund deines Verlegers), der die von dir in Englisch gelesenen Passagen in französischer Übersetzung vortragen wird. Eine Doppellesung, wie üblich in Ländern, wo das Publikum nicht zweisprachig ist, ihr zwei lest im Tandem, von Absatz zu Absatz einander abwechselnd, die von dir für die Veranstaltung ausgewählten Passagen. Du freust dich, den Abend in Trintignants Gesellschaft verbringen zu dürfen, denn du schätzt seine Schauspielkunst sehr, und wenn du an die Filme denkst, in denen du ihn gesehen hast (Bertoluccis
Der große Irrtum
,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher