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Granatsplitter

Granatsplitter

Titel: Granatsplitter
Autoren: K Bohrer
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GRANATSPLITTER
    War es schon Herbst neununddreißig oder erst Sommer vierzig? Die Jungen hatten plötzlich ein neues Spiel erfunden. Das konnte es vorher nicht gegeben haben. Buchstäblich über Nacht hatte es nämlich diese in allen Farben funkelnden Steine vom Himmel geregnet. Das geschah jedes Mal, wenn die feindlichen Flugzeuge dagewesen waren und der Donner über der großen Stadt lag. Die Jungen, die kleinen Sechs- bis Achtjährigen, hatten zunächst gar keine Vorstellung von dem, was geschah: dass es englische Flugzeuge waren und dass die deutschen Abwehrgeschütze rund um die Stadt den Donner verursachten. Dass Bomben fallen könnten, daran dachte keiner. Man hatte das Wort seit etwa einem Jahr von den Erwachsenen gehört. Eine Bombe würde auf das Haus fallen, und vielleicht würde man sterben. Tod, Krieg – solche Worte. Aber es waren unverständliche Worte geblieben: Bomben, Engländer, die vom Westen übers Meer heranflogen, die Stadt war eine der westlichsten und daher eine der ersten, die die fremden Flieger erreichten. Und überhaupt das Fliegenkönnen. Das lenkte ab von dem Wort feindlich. Es war ein aufregendes Bild: dass jemand durch die Luft flog. Die älteren Jungen wussten Bescheid: Sie kritzelten auf ihre Schiefertafeln in der Schule die Umrisse von Flugzeugen, die Stukas oder Messerschmitt hießen. Die Namen der englischen Flugzeuge kannte man noch nicht. Es sollte noch Jahre dauern, bis die Jungen die Wörter wirklich verstehen würden, wenn Tausende Bomben fielen, der Donner von ihren Explosionen herrührte und Phosphor in die Keller fließen würde.
    Davon wussten die Jungen noch nichts, als sie zum erstenmal nach so einer Donnernacht am Morgen auf die Straße gingen, auf dem Weg in die Volksschule, und die bunten funkelnden Steine auf Trottoir und Straße herumliegen sahen. Es gab sie in allen Größen, in allen Farben, keiner war wie der andere. An den Rändern waren sie aufgerissen, gezackt von unterschiedlicher Schärfe. Wenn man sie unvorsichtig anfasste, konnte man sich die Finger aufreißen. In dem Moment merkte man, dass die Steine nicht aus Stein waren, sondern aus Eisen, blitzende Metallstücke. Die größeren Jungen erklärten, um was es sich handelte: Granatsplitter. Das waren aus großer Höhe heruntergefallene Splitter, die von den explodierten Flakgranaten stammten, die nachts den Donner verursacht hatten. Die Sirenen hatten den aufpeitschenden Klang, der eine Katastrophe schon beim erstenmal anzukündigen schien, bestimmt aber eine Warnung ausstieß, hinter der mancher etwas Größeres, Erschreckenderes ahnte. Aber in den Keller gingen die meisten Eltern der Granatsplitterjungen noch nicht.
    Das also war der Anlass des neuen Spiels. Denn kaum hatte am Morgen der eine Junge, den Schulranzen auf dem Rücken, eines der blitzenden Dinger in der Hand und der andere ein anderes und ein zweites und drittes – sie stießen bei den heftigen Entdeckungssprüngen zusammen, weil sie im Eifer, das schönste Stück zu bekommen, keine Rücksicht nahmen –, da begann auch schon der Vergleich, wer wohl das schönere Stück erwischt hätte. Und da jeder eine andere Ansicht hatte, begann ein Tauschhandel. Nicht gleich nach der ersten Nacht, aber wohl nach der zweiten oder dritten: Man tauschte Granatsplitter. Auf dem Gang in die Schule blieb dazu nicht viel Zeit, aber an den Nachmittagen konnte man sich treffen und tauschen. Die Granatsplitter waren das Schönste, was man sich ausdenken konnte. Manche waren von dunkel leuchtendem Rot und schwarz an den Rändern, andere hatten eine bläulichweiße Färbung, und wieder andere waren von gleißendem Gelb oder Silber. Es war wie ein Märchen – man war der Held eines Märchens, der etwas Wunderschönes, sehr Fremdes, sehr Seltsames fand, das ihm das Gefühl gab, fortan Glück zu haben. Der Junge war regelrecht entzückt von dieser Schönheit. Er hatte das gleiche Gefühl wie damals, als man ihm aus Tausendundeiner Nacht die Geschichte vom Prinzen in dem funkelnden Palast vorgelesen hatte, in dem es viele Gemächer gab, die wiederum funkelten, und in den Gemächern wiederum kleine Kästchen, in denen funkelnde Edelsteine lagen.
    Das Leuchtende und die Vielfältigkeit der Granatsplitterfarben waren das eine. Es war aber noch etwas anderes: Das Rissige der scharfen Ränder war ja das Gegenteil von den Schmückstücken, wie seine Mutter sie immer trug. Einige Jungen hatten erklärt, dass das Rissige davon käme, dass die Flakgranaten in der Luft
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