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Winter in Maine

Winter in Maine

Titel: Winter in Maine
Autoren: Gerard Donovan
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keine Zeit, besonders weil ihn eben nur noch ein Sekundenbruchteil vom Tod getrennt hatte.
    Er fragte: Was wird aus ihr, ihren Gefühlen, was soll sie ma chen?
    Sie wird leben, sagte ich.
    Und wie? Ich kann Claire eine Familie, Kinder, ein gemein sames Leben bieten. Was hättest du ihr bieten können?
    Ich hielt inne. Das war eine gute Frage. Ich hatte Lust, eine türkische Zigarette zu rauchen, angesichts der hereinbrechen den Dunkelheit einen starken Kaffee zu trinken, denn diese kurze Zeit war für mich immer der schönste Moment des Tages. Aber da war Troy, und wenn ich kurz nicht aufpasste, würde er sofort verschwinden.
    Ich sagte: Ich weiß es nicht mehr. Im Grunde genommen weiß ich nicht genau, ob die Menschen sich irgendetwas ge ben.
    Also, ich kann ihr eine Familie geben, sittliche Wertmaß stäbe.
    Ich weiß, was diese Worte bedeuten, sagte ich und ließ das Gewehr sinken. Wenn man eine Enfield lange genug hochhält, ist sie auch für einen Erwachsenen schwer.
    Dann kannst du sie ja in die Praxis umsetzen, erwiderte er. Entweder er meinte es ernst, oder er war ein erstklassiger Schauspieler. Ich hatte den Sherry aufs Verandageländer ge stellt, und mir blieb nur, diesen Mann zu erschießen oder mit ihm zu reden.
    Dazu fällt mir ein Beispiel ein, sagte ich. Ja, sagte er. Nur zu. Ich höre.
    Ich sagte: Die Perlhühner brüten ihre Eier im Gebüsch aus und verlassen sie nur, wenn es um Leben oder Tod geht. Wenn ich das abgemagerte Weibchen abends aus dem Gebüsch kom men sehe, ist es von drei Männchen umringt, die es auf dem Weg zur Futterstelle beschützen.
    Nicht schlecht als Anfang, sagte er.
    Einmal kreiste ein Habicht über dem Garten, und bis auf die Hühner liefen alle Tiere unter die Bäume. Der Habicht stieß herab und schnappte sich eins. Doch im selben Moment war Hobbes da und sprang nach dem Huhn, das der Raub vogel in den Krallen hielt, sprang so hoch, dass der Habicht losließ und Hobbes mit dem Huhn zu Boden stürzte.
    Darauf wusste Troy nichts zu sagen, als hätte er nicht zu gehört oder glaubte mir nicht. Aber ich hatte es gesehen. Der gute Polizist blätterte zu einer anderen Seite in seinem Überlebenshandbuch. Dann sagte er: Mach's dir doch nicht so schwer. Stell dich der Polizei.
    Ich war enttäuscht.
    Mach's dir n icht so schwer, wiederholte er.
    Mache ich gar nicht.
    Ich beschloss, eine Weile zu schweigen, ihm den nächsten Schritt zu überlassen. Das machte ihn nervös. Er sagte etwas, aber der Wind trug es davon, und im Moment antwortete ich sowieso nicht. Und falls er sich bewegte, war er auf der Stelle ein toter Mann.
    Als ich noch klein war, hörte ich auf der Farm einmal einen Besucher sagen, es sei unnatürlich, wie wir unsere Enten vor Raubtieren schützten, in der wirklichen Welt müssten sie sich selbst durchschlagen, und das Gesetz der Natur bevorzuge die Starken. An jenem Tag schien die Sonne, und die Enten saßen mit gebogenen Hälsen im Wasser des umgedrehten Müllton nendeckels und schliefen. Mein Vater hörte nickend zu, bot dem Besucher eine weitere Tasse Tee an und unterhielt sich noch eine Weile mit ihm.
    Dann sagte er: Sie haben sicher nichts dagegen, dass ich, wenn Sie Ihren Tee ausgetrunken haben - er deutete auf die Tasse -, ins Haus gehe, eine Flinte hole und Sie erschieße.
    Ich verstehe nicht, sagte der Mann und setzte sich anders hin.
    Müssten Sie aber, sagte mein Vater. Denn ich habe eine Flin te und Sie nicht, also bin ich stärker als Sie und kann Sie Ihrer Philosophie zufolge erschießen. Seine Stimme hatte einen singenden Tonfall, obwohl er aus der Sicht des Besuchers, der kurz darauf ging, eigentlich eine Drohung ausstieß. Diese Geschichte ging in der ganzen Stadt herum, doch sie wurde dem Krieg zugeschrieben. Am Ende des Tages sagte mein Vater mit einem seltenen Augenzwinkern: Manchmal kann ein Krieg auch nützlich sein. Und dann fügte er in ernstem Ton hinzu:
    Man kann nicht ans Überleben des Stärkeren glauben, aber erst bestimmen wollen, wer der Stärkere ist.
    Ü berleben des Stärkeren, sagte ich.
    Was? Troy wurde wieder kreidebleich. Ich hatte laut ge sprochen, hatte mich damit aus der Vergangenheit gelöst, von Menschen, die längst tot und begraben waren. Und das erinnerte mich an die Bücher, das Buch in meiner Tasche.
    Troy folgte meinem Blick.
    Eine Tasse Tee hätte jetzt Wunder gewirkt, aber ich wusste, wenn ich einen Moment unaufmerksam war, würde ich mich am falschen Ende meines Gewehrs wiederfinden, und Troy würde mich sofort
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