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Winter in Maine

Winter in Maine

Titel: Winter in Maine
Autoren: Gerard Donovan
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Handschuhen war mir warm genug, und ich wollte nichts auf den Kopf ziehen.
    Um ehrlich zu sein, ich hatte den Überblick über die Zeit verloren. Ich hatte das Gefühl, frei in einer Zeit zu schweben, die nicht mir gehörte, die ich mir nicht ausgesucht hatte, in die ich durch ein Versehen oder einen Fehler hineingestürzt und in der ich aufgewachsen war. Vielleicht hätte ich von meinem Stuhl aufstehen und mich in die richtige Zeit wehen lassen können, zurück in eine Zeit, in der ich atmen konnte, in der mein Warten richtig war, an einen Ort voller Leben, mit Wein und warmen Wiesen unter Kirchturmglocken.
    Ich saß auf dem Stuhl und beobachtete, wie sich der Mond orange färbte, und dann sickerte etwas Blut hinein: Und da war es, das wahre Gesicht des Mondes, seine wahre Kunst, das kalte rote Fleisch, eine Schusswunde in der Nacht.
    Ich blickte hinauf, bis ich so müde war, dass ich eine Weile die Augen schließen musste.
    Ich hatte keine logischen Argumente, keine Ausrede, keine Träume, die mich zum Handeln getrieben oder einen anderen Menschen in mir hervorgezaubert hatten: Jeder Augenblick der letzten paar Tage, alles, was ich getan oder unterlassen hatte, war ganz allein mein Werk. Hobbes war mein Freund, und ich liebte ihn. Das ist alles.
    Als ich erwachte, waren die Tasse und das Buch herunterge fallen, doch die Pfeife lag noch in meiner Hand. Meine Ohren waren mit elastischer Haut umhüllte Steine, Lippen und Nase waren wund und taub zugleich. Der Mond war nach rechts gewandert und hatte sein Licht wiedergefunden, und der Himmel war eingestürzt, es waren noch ein paar Zentimeter Schnee gefallen, im Licht weiß glühender Schnee, Schnee auf meinem Mantel, Schnee auf der in die Stiefel gesteckten Hose, die Socken durchnässt. Trotzdem wollte ich sitzen bleiben und auf den Morgen warten, wollte mich zudecken und draußen schlafen, aber das Feuer war mit Sicherheit aus, und ich fragte mich, wie spät es wohl war.
    Ich trug alles ins Haus, als Letztes den Stuhl, und erweckte die Flammen wieder zum Leben. Ich goss die Pflanzen, stand kurz im Schlafzimmer und beugte mich über die Matratze auf den Kisten, auf der ich so viel Zeit in Bewusstlosigkeit verbracht hatte. Im Wandschrank befanden sich nur ein paar Sommerhemden. Die konnten dort bleiben. Ein Paar Som merschuhe. Die ließ ich am besten auch da. Ich schaltete das Grammophon aus und stellte die Schallplatte zurück.
    Da die Wunde an meiner Schulter blutrot war, stöberte ich im Medizinschränkchen nach Ringelblumensalbe. Ich öffnete das Fenster, spähte hinaus und hörte das Rascheln vertrockne ter Blätter. Es klang wie ein Name, doch der Wald hatte keine Bezeichnung für sich, die ich kannte. Und wie sollte ich mich jetzt überhaupt nennen? Für den Wald war ich bestimmt eine Wunde, die auf einer Lichtung lebte, eine Entzündung.
    Ich ging an den Büchern entlang, so vielen Büchern, und fragte mich, wie es ihnen ohne Feuer ergehen würde. Wenn sie zusammenblieben, würden es nur noch kalte Bücher sein. Ich stellte mich neben den Stuhl, legte die Pfeife meines Groß vaters auf die eine Armlehne und das Wintermärchen auf die andere, trat dann nach draußen und ging an der Veranda vorbei, betrachtete wieder das Grab und fragte mich, ob im Frühling ein neuer Hobbes wachsen würde und wer dann wohl hier wäre, um es zu sehen. Ich wollte nicht dabei sein: Dann musste ich längst weggewischt sein, ausradiert wie Bleistiftstriche, weggefegt wie Holzstaub vom Feuerrost. Die Leute würden jetzt alles Mögliche erzählen. Als dieser Mann im Wald vor mir hergegangen war, hätte ich ihm gern erklärt, dass ich keine Gefühle zeigte, wenn es angebracht war, und zu viel Gefühl, wenn es unangebracht war. Von Leuten wie mir muss man sich fernhalten, dann kann einem nichts passieren.
    Das hatte ich ihm sagen wollen, hatte es aber nicht über die Lippen gebracht.
    Im Mondschein liefen fünf junge Hirsche zwischen den Bäumen hindurch. Ich sah ihre Augen leuchten, als sie an der Hütte vorbeikamen, wo sie sich kurz zusammendrängten und dann schnell davontrabten, eine Reihe von Hufen, die durch das flaumige Weiß sprangen.
    Ich weiß nicht, warum, aber ich wartete eine Weile und betrachtete vom Blumenbeet aus den Wald, als könnte Claire wieder aus dem Schnee hervortreten, denn ich hatte nie begrif fen, wie eine Frau, die meilenweit entfernt in St. Agatha wohnte, zufällig aus dem Wald spazieren konnte.
    Doch ich hatte keine Zeit. Ich nahm das Gewehr und ging los,
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