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Winter in Maine

Winter in Maine

Titel: Winter in Maine
Autoren: Gerard Donovan
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des tiefsten Südens und des höchsten Nordens.
    Auch wegen der Winter war es seltsam. Mein Großvater er richtete die Hütte auf zwei Morgen gerodetem Land, ringsum von Wald umgeben, und mein Vater baute eine große Scheune an, noch größer als die Hütte, wo er sein ganzes Werkzeug, den Pick-up und all das aufbewahrte, was zerbrechlich war oder leicht verloren ging und die sechs Wintermonate im Freien nicht überstehen würde. Der Wald setzte sich aus Nadel- und Laubbäumen zusammen - Kiefern, Eichen, Fichten, Tannen und Ahorn -, und wenn sich die Blätter im September gelb und rostrot färbten und wie vertrocknete Haut abfielen, wenn sie sich im Oktober bräunlich auf dem Waldboden kräuselten und in den November davongeweht wurden, war es, als würden die Bäume rings um die Hütte zurückweichen, sich schrittweise entfernen.
    Die Hütte stammt vom französischen Familienzweig mei ner Mutter, denn mein Vater war Engländer, doch von ihm erbte ich sie. Er sagte, es sei kaum zu glauben, dass dieses Tal der sanft gewellten Landschaft Mittelenglands gleiche, aber statt der englischen die französische Sprache in diesen Hügeln erschalle. Auch das war eine seltsame Entscheidung - eine Akadierin, die einen Engländer heiratete -, doch es heißt, meine Mutter ging stets ihren eigenen Weg, und Akadier lassen sich ohnehin keine Vorschriften machen.
    Die Hütte verschmilzt mit dem Wald oder der Wald mit der Hütte. Man steigt im Wald über einen Zweig, und plötzlich steht man auf einer Veranda und muss ganz vorsichtig sein. In diesen Wäldern wohnen viele Männer, die sonst nirgends leben können. Sie leben allein und sind noch für die geringste Beleidigung empfänglich, darum sollte man sich lieber gut benehmen oder erst gar nichts sagen. Sie kommen in den Norden, um ihr Lebensende abzuwarten, oder sie waren oh nehin hier und bleiben aus demselben Grund. Solche Männer leben am Ende aller langen Wege, die es auf der Welt gibt, und wenn sie an einen Ort wie diesen gelangen, sind ihnen die Länder, in denen sie nicht leben können, ausgegangen. Ihnen bleibt nichts anderes übrig, als zu bauen, und auch hier, im tiefen Schatten der Bäume, gehen sie den anderen so weit wie möglich aus dem Weg. Ich wohnte weit entfernt von meinen engsten Nachbarn, die nächsten Hütten lagen fünf Kilometer westlich und östlich von hier.
    Im Sommer legte ich am Rand der Lichtung ein Blumen beet an, ungefähr zehn mal einen Meter groß, mit Kapuzinerkresse, Ringelblumen, Lilien und Fingerhut, und jedes Jahr vergrößerte ich die kleine Rasenfläche, die sich im Sommer in einen warmen grünen Teppich verwandelte, auf dem ich liegen, den Duft der Blumen einatmen und den blauen Himmel genießen konnte. Diesmal war der Winter erst spät gekommen. Im Oktober hatte größtenteils ein seltsamer, ziemlich warmer Südwind geweht, und ein paar Blumen verströmten noch ihren Duft, obwohl ihre Zeit längst vorbei war. Ich hatte sie mit schwarzen, zu kleinen Zelten gebauschten Plastiktüten abgedeckt, damit sie den ersten Nachtfrost überstanden, in der Hoffnung, dass sie noch eine Woche die Farbe behielten und die bevorstehenden trüben Monate verkürzten. Im Sommer hatten sie Freude in mein Leben gebracht, und ich wollte ihnen helfen. Aber in den letzten Tagen war die Temperatur gesunken, und bald würden sich auch diese Überlebenden ins sichere Erdreich zurückziehen und im Klammergriff des tiefen Winters in ihren Samen schlafen.
    Abgesehen von meinem Hund lebte ich allein, denn ich hatte, bis auf ein einziges Mal vielleicht, nie daran gedacht zu hei raten, und darum gehörte mir hier auch die Stille. Das Haus war rings um die Stille errichtet: Mein Vater war ein eifriger Leser gewesen, und vom Holzofen im Wohnzimmer bis hinter zur Küche und nach rechts und links in die beiden Schlafzim mer erstreckten sich an den Wänden lange, mit vier Brettern ausgestattete Bücherregale, in denen alle Bücher standen, die er je besessen oder gelesen hatte, was ein und dasselbe war, denn mein Vater hatte tatsächlich alles gelesen. So war ich von 3282 Büchern umgeben, in Leder gebundene Erstausgaben, Taschenbücher, alle in gutem Zustand, alphabetisch geordnet und mit Füller katalogisiert. Und da die Regale die gesamte Hütte säumten - und es in manchen Zimmern dunkler und kälter war, weil sie weiter vom Holzofen entfernt lagen -, gab es warme und kalte Romane. Viele der kalten Romane waren von Autoren verfasst worden, deren Nachname mit einem Buchstaben
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