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Winter in Maine

Winter in Maine

Titel: Winter in Maine
Autoren: Gerard Donovan
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noch mal zwanzig Kilometer bis Fort Kent, also würden sie frühes tens in fünf Stunden kommen, wahrscheinlich sogar erst nach Mitternacht, wenn sie alle Männer und Wagen beisammenhatten und die Planung abgeschlossen war, und er würde natürlich mitkommen, um seine Würde wiederherzustellen. Das war in Ordnung. Ich lehnte das Gewehr an die Veranda und ging ins Haus.
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    Zuerst schob ich Holzscheite in den Ofen, um das Feuer in Gang zu bringen, und machte Tee, aber dann folgte etwas, das ich noch nie in meinem Leben getan hatte: Ich trug der Gartenstuhl von seinem Platz vor dem Ofen auf die Lichtung hinaus und stellte ihn genau zwischen die Veranda und das Blumenbeet, der freien Fläche inmitten der Bäume zugekehrt, wo man die meisten Sterne am Himmel sah. Als ich wieder in die Hütte ging, sah ich die riesige Leerstelle, wo der Stuhl gestanden hatte, den Mann, der darauf gesessen hatte, und die ganzen Bücher, deren fesselnde Geschichten ihm auf diesem Stuhl jahrelang die Zeit vertrieben hatten.
    Im Gästezimmer hob ich den Deckel vom Grammophon, legte eine Schallplatte auf, drehte die Lautstärke so weit auf, bis ich wusste, dass ich die Musik draußen hören würde, und stell te den Tonarm auf Wiederholung. Jetzt brauchte ich mir nur noch ein Buch auszusuchen. Ich ging zu S wie Shakespeare, genau zwischen den kalten Büchern auf der Rückseite und den warmen auf der anderen Seite der hufeisenförmig angeordneten Regale, die an der Küchentheke endeten. Zusammen mit dem Mantel und den Handschuhen, aus denen die Finger hervorschauten, trug ich das Buch hinaus, setzte mich auf den Stuhl und trank Tee, während über mir die Musik ertönte.
    Jetzt würde ich nicht mehr lange warten müssen. Ich lehnte mich auf dem Stuhl zurück, betrachtete die Sterne und ver mutete beim Anblick der Wolken, dass es irgendwo im Wald schneite, hoffte aber, das Stück Himmel über mir würde noch eine Stunde lang wolkenlos bleiben. Tief aus den Kratzern der Schallplatte erklangen eine Laute und eine zärtliche Stimme, von weither und aus längst vergangener Zeit. Ich schloss die Augen und ließ die Musik über mich hinwegtreiben, die Fin ger um die Tasse gelegt, damit sie warm blieben:
    Greensleeves was all my joy, Greensleeves was my delight, Greensleeves was my heart of gold, And who but my Lady Greensleeves.
    Ich dachte, ich könnte genauso gut eine Weile lesen, die Stelle im Wintermärchen, die Claire mir kurz vor dem Ende hin gehalten hatte, die Stelle, die sie gemeint haben musste, auch wenn sie nicht gern laut vorlas:
    Ein traurig Märchen passt für den Winter, und ich weiß
    Von Geistern und Hexen eins.
    Ich schlang den Mantel um mich, um die Kälte zu vertreiben, doch im selben Augenblick leuchtete die Seite auf, und ich wusste Bescheid, blickte auf, da, scharf und eisig in der Nacht, ließ der weiße Fels über den Bäumen und aus der klingenden Wolke seine ungehörte Streichmusik ertönen, über der weißen Lampe des Bodens, in die schwarzen Weiten der Luft.
    Jetzt dauert es nicht mehr lange.
    Bald überfiel mich die Kälte, die unbarmherzige, namenlose Kälte, und ich brauchte die Decke, die ich übers Verandage länder gehängt hatte. Als ich sie zum Stuhl mitnahm, musste ich an meinen Großvater denken, der seine Zeit unter derselben Decke verbracht hatte, die mich jetzt warm hielt und mir vorher das Leben gerettet hatte: Er hatte den ganzen Tag unter der Decke am Feuer gesessen, und als ich ihn einmal fragte, woran er denke, legte er mir die Hand auf die Schulter und sagte, er denke an meine Mutter, die erst vor sechs Jahren gestorben sei, und daran, wie gern er sie gehabt habe, dass ich sie gemocht hätte und mir keine Sorgen über das machen sol le, was ich an mir nicht verstünde, denn ich hätte sie ja nicht gekannt. Sie sei in mir, das genüge.
    Als das Lied ungefähr eine Stunde lang abgespielt worden war, war ich bereit für das nächste. Das Feuer hatte sich in einen heißen Glutbrei verwandelt, als ich leise ins Schlafzim mer ging und eine andere Schallplatte auflegte, Lieder von John Dowland, einem Lautenspieler aus der Zeit Shakespeares. Ich sah, wie sich die ersten drei Titel auf dem Etikett drehten:
    Flow Not So Fast Ye Fountains, Go from My Window, Flow My Teares.
    Auf dem Weg nach draußen goss ich Kaffee auf, um wach zu bleiben, und trug ihn mitsamt einem Kissen hinaus, damit ich mich zurücklehnen und mühelos den Himmel sehen konnte. Bevor es mir zu gemütlich wurde, ging ich in die Scheune,
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