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Wimsey 10 - Das Bild im Spiegel

Wimsey 10 - Das Bild im Spiegel

Titel: Wimsey 10 - Das Bild im Spiegel
Autoren: Dorothy L. Sayers
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Angst. Als ich ein Kind war, hatte meine Kinderfrau eine Angewohnheit, mit der sie mir schreckliche Angst einjagte. Wenn wir fortgewesen waren und sie gefragt wurde, ob wir jemandem begegnet wären, sagte sie jedesmal: ›O nein – niemand Hübscherem als uns.‹ Wenn ich hinter ihr her tapste, hatte ich jedesmal eine Heidenangst, wir könnten um eine Ecke biegen und uns plötzlich einem Paar gegenübersehen, das uns auf verteufelte Weise ähnlich sah. Natürlich wäre ich lieber gestorben, als irgend jemandem zu erzählen, in was für eine Angst mich das versetzte. Kinder sind komische kleine Wesen.«
    Der kleine Mann nickte nachdenklich.
    »Also«, fuhr er fort, »etwa um diese Zeit kamen die Alpträume wieder. Zuerst nur in größeren Abständen, aber sie wurden immer häufiger. Schließlich kamen sie jede Nacht. Kaum hatte ich die Augen zu, da war schon der lange Spiegel da, und die Gestalt kam grinsend auf mich zu, immer mit ausgestreckter Hand, als ob sie mich packen und in den Spiegel hineinziehen wollte. Manchmal wachte ich von dem Schrecken auf, aber andere Male ging der Traum weiter, und ich taumelte stundenlang durch eine sonderbare Welt, neblig und dämmrig, mit lauter schiefen Mauern wie in diesem Film von ›Dr. Caligari‹. Reiner Irrsinn war das. So manche Nacht habe ich dagesessen und nicht gewagt, mich schlafen zu legen. Ich wußte ja nichts. Ich schloß immer die Schlafzimmertür ab und versteckte den Schlüssel, vor lauter Angst, daß ich – nun ja, ich wußte eben nicht, was ich womöglich anstellen würde. Aber dann las ich in einem Buch, daß Schlafwandler sich sehr gut die Stellen merken, wo sie im Wachzustand etwas versteckt haben. Also hatte das auch keinen Sinn.«
    »Warum haben Sie sich nicht jemanden gesucht, der mit Ihnen zusammenwohnt?«
    »Das hab ich ja.« Er zögerte. »Ich lernte eine Frau kennen – sie war ein liebes Ding. Da hörten die Träume auf. Drei Jahre lang genoß ich seligen Frieden. Ich habe sie sehr gern gehabt. Verdammt gern sogar. Dann ist sie gestorben.«
    Er trank den letzten Schluck Whisky und mußte ein paarmal mit den Augen zwinkern.
    »An einer Grippe. Einer Lungenentzündung. Ich bin fast daran zerbrochen. Und hübsch war sie auch …
    Danach lebte ich dann wieder allein. Es war mir arg. Ich konnte nicht – ich wollte nicht – aber die Träume kamen wieder. Schlimmer. Ich träumte jetzt, daß ich Dinge tat – na ja! Aber das tut jetzt nichts zur Sache.
    Und eines Tages passierte es am hellichten Tag …
    Ich ging zur Mittagszeit die Holborn entlang. Ich arbeitete immer noch bei Crichton, war inzwischen Leiter der Packerei geworden und kam ganz gut zurecht. Es war ein scheußlicher Tag, erinnere ich mich – düster und regnerisch. Ich wollte mir die Haare schneiden lassen. Auf der Südseite der Straße, etwa auf halber Strecke, ist ein Friseursalon – so einer, zu dem man durch eine lange Passage kommt und auf eine Spiegeltür mit goldener Inschrift zugeht. Sie wissen, was ich meine.
    Ich ging hinein. Die Passage war beleuchtet, so daß ich sehr gut sehen konnte. Als ich auf den Spiegel zuging, sah ich, wie mir mein Spiegelbild entgegenkam, und ganz plötzlich überfiel mich dieses scheußliche Gefühl aus meinen Träumen. Ich sagte mir, das sei doch alles Unsinn, und griff nach der Klinke – mit der linken Hand, weil die Klinke auf dieser Seite war und ich immer noch die linke Hand nahm, wenn ich nicht lange überlegte.
    Das Spiegelbild streckte natürlich die rechte Hand aus – das war ja ganz in Ordnung so – und ich sah meine eigene Gestalt in Schlapphut und Regenmantel – aber das Gesicht
    – o mein Gott! Es grinste mich an! Und dann drehte es mir plötzlich den Rücken zu – genau wie im Traum – und ging von mir weg, wobei es über die Schulter zurückschaute – Ich hatte die Hand an der Tür; sie ging auf, und ich fühlte nur noch, wie ich stolperte und über die Schwelle fiel.
    Danach kann ich mich an nichts mehr erinnern. Ich wachte in meinem eigenen Bett auf, und ein Arzt war bei mir. Er sagte, ich sei auf der Straße in Ohnmacht gefallen, und man habe ein paar Briefe mit meiner Adresse bei mir gefunden und mich nach Hause gebracht.
    Ich erzählte dem Arzt alles, und er sagte, meine Nerven seien sehr angegriffen, und ich solle mir eine andere Arbeit suchen und mehr an die frische Luft gehen.
    Bei Crichton hat man sich sehr anständig benommen. Ich wurde zur Inspektion der Außenwerbung abgestellt – Sie wissen ja, da fährt man von
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