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Wimsey 10 - Das Bild im Spiegel

Wimsey 10 - Das Bild im Spiegel

Titel: Wimsey 10 - Das Bild im Spiegel
Autoren: Dorothy L. Sayers
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Das Bild im Spiegel 
Eine Lord Peter Wimsey-Geschichte
    Der kleine Mann mit der Schmachtlocke schien so in das Buch vertieft, daß Wimsey es nicht übers Herz brachte, sein Eigentumsrecht geltend zu machen; er zog sich statt dessen einen zweiten Sessel heran, stellte sein Glas in bequemer Reichweite ab und versuchte, so gut es ging, sich mit dem Dunlop-Reiseführer zu unterhalten, der wie üblich auf einem der Tische in der Hotelhalle lag.
    Der kleine Mann hatte die Ellbogen fest auf die Sessellehnen gestützt und hielt den roten Krauskopf gebannt über die Seiten gebeugt. Er atmete schwer, und wenn es ans Umblättern ging, legte er den dicken Band auf den Schoß und nahm für diese Aufgabe beide Hände zu Hilfe. Kein »großer Leser vor dem Herrn«, entschied Wimsey.
    Als der Mann die Geschichte zu Ende gelesen hatte, blätterte er umständlich zurück und las einen Absatz aufmerksam noch einmal. Dann legte er das immer noch offene Buch auf den Tisch und erhaschte dabei Wimseys Blick.
    »Verzeihung, Sir«, sagte er mit seiner etwas dünnen Stimme und deutlichem Cockney-Akzent, »ist das Ihr Buch?«
    »Macht überhaupt nichts«, antwortete Wimsey gnädig. »Ich kenne es auswendig. Hab’s sowieso nur bei mir, weil man so schön ein paar Seiten darin lesen kann, wenn man für die Nacht in so einem Nest wie diesem hier festsitzt. Wo immer man es aufschlägt, findet man irgend etwas Unterhaltsames.«
    »Dieser Wells«, fuhr der Rothaarige fort, »von dem kann man doch wirklich sagen, daß er ein sehr raffinierter Schriftsteller ist, nicht wahr? Großartig, wie realistisch er alles darstellt, und dabei kann man sich bei einigen von den Dingen, die er beschreibt, kaum vorstellen, daß sie tatsächlich möglich sein sollen. Nehmen wir zum Beispiel die Geschichte hier; würden Sie etwa sagen, daß so etwas einem Menschen wie Ihnen – oder mir – tatsächlich passieren könnte?«
    Wimsey verrenkte den Hals, um einen Blick auf die Seite zu werfen.
    » Das Plattner-Experiment « , meinte er, »das ist doch die Geschichte von dem Lehrer, der in die vierte Dimension gepustet wurde, und als er wiederkam, waren seine rechte und linke Körperseite vertauscht, ja? Nein, ich glaube nicht, daß so etwas im wirklichen Leben vorkommen könnte, aber es ist natürlich faszinierend, mit der Vorstellung von einer vierten Dimension zu spielen.«
    »Na ja –« Der Mann stockte und sah scheu zu Wimsey auf. »Das mit der vierten Dimension verstehe ich ja nicht so richtig. Ich wußte gar nicht, daß es so was gibt, aber für Leute, die etwas von Wissenschaft verstehen, erklärt er das sicher sehr einleuchtend. Aber diese Rechts-LinksGeschichte, also, da weiß ich, daß sie stimmt. Aus Erfahrung, wenn Sie mir glauben.«
    Wimsey hielt ihm sein Zigarettenetui hin. Der kleine Mann wollte instinktiv mit der Linken zugreifen, schien sich dann aber zu besinnen und streckte die Rechte aus.
    »Da, bitte, sehen Sie. Ich nehme immer die linke Hand, wenn ich nicht lange überlege. Genau wie dieser Plattner. Ich gehe dagegen an, aber es nützt offenbar nichts. Das würde mich aber nicht weiter stören – es ist ja nichts von Bedeutung, und viele Leute sind Linkshänder und denken sich gar nichts dabei. Nein, es ist nur diese furchtbare Angst, daß ich nicht weiß, was ich womöglich alles anstelle, wenn ich in dieser vierten Dimension bin, oder was das sonst ist.«
    Er seufzte tief.
    »Es macht mir solche Angst. Es bringt mich fast um.«
    »Wie wär’s, wenn Sie es mir erzählten?« meinte Wimsey.
    »Ich rede nicht gern darüber, weil die Leute denken könnten, bei mir wäre eine Schraube locker. Aber es geht mir ganz schön auf die Nerven. Jeden Morgen frage ich mich beim Aufwachen, was ich in der Nacht getrieben habe und ob es auch der Tag im Monat ist, der es eigentlich sein müßte. Ich habe keine Ruhe, bis ich die Morgenzeitung gesehen habe, und nicht einmal dann kann ich sicher sein …
    Also gut, ich werde es Ihnen erzählen, wenn Sie es nicht lästig oder aufdringlich finden. Das Ganze fing damit an – «
    Er unterbrach sich und sah sich nervös in der Halle um. »Es ist niemand zu sehen. Würde es Ihnen etwas ausmachen, Sir, einmal kurz Ihre Hand hierherzulegen –?«
    Er knöpfte seine ziemlich geschmacklose zweireihige Weste auf und legte eine Hand auf die Stelle seiner Anatomie, an der man gemeinhin das Herz vermutet.
    »Aber gern«, sagte Wimsey und kam der Bitte nach.
    »Fühlen Sie etwas?«
    »Nein, eigentlich nicht«, sagte Wimsey.
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