Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wimsey 10 - Das Bild im Spiegel

Wimsey 10 - Das Bild im Spiegel

Titel: Wimsey 10 - Das Bild im Spiegel
Autoren: Dorothy L. Sayers
Vom Netzwerk:
»Was sollte ich denn fühlen? Vielleicht eine Schwellung oder so etwas? Falls Sie aber Ihren Puls meinen, den fühlt man besser am Handgelenk.«
    »O ja, da fühlen Sie ihn auch«, sagte der kleine Mann.
    »Aber versuchen Sie es doch jetzt mal auf der andern Seite, Sir.«
    Wimseys Hand tastete gehorsam nach der anderen Seite.
    »Ja, hier glaube ich ein leichtes Flattern zu spüren«, sagte er nach kurzem Schweigen.
    »Ja? Aber dort würden Sie es doch eigentlich nicht erwarten, sondern auf der andern Seite, oder? Trotzdem ist es hier. Ich habe das Herz auf der rechten Seite, und das wollte ich Sie mit eigenen Händen fühlen lassen.«
    »Ist es Ihnen durch eine Krankheit verrutscht?« fragte Wimsey mitfühlend.
    »Sozusagen. Aber das ist noch nicht alles. Meine Leber sitzt auch auf der falschen Seite, und ebenso alle meine übrigen Organe. Ich habe mich von einem Arzt untersuchen lassen, und der hat gesagt, bei mir ist alles verkehrtherum. Den Blinddarm habe ich links – das heißt, da hatte ich ihn, bis man ihn mir herausgenommen hat. Wenn wir jetzt unter uns wären, könnte ich Ihnen die Narbe zeigen. Der Chirurg hat sich ganz schön gewundert, als man ihm das von mir sagte. Hinterher hat er gemeint, es sei ziemlich schwierig für ihn gewesen, sozusagen linksherum operieren zu müssen.«
    »Ungewöhnlich ist das sicher«, sagte Wimsey, »aber ich glaube, so etwas kommt hin und wieder vor.«
    »Nicht so wie bei mir. Das ist nämlich bei einem Luftangriff passiert.«
    »Bei einem Luftangriff?« fragte Wimsey fassungslos.
    »Ja – und wenn dabei sonst nichts mit mir passiert wäre, würde ich mich noch froh und dankbar damit abfinden. Achtzehn Jahre war ich damals und gerade eingezogen. Vorher hatte ich bei Crichton in der Holborn – Sie haben sicher schon davon gehört, ›Crichton-Werbung wird bewundert‹ – in der Packerei gearbeitet. Meine Mutter wohnte in Brixton, und ich war auf einem Urlaub von der Grundausbildung in die Stadt gefahren. Ich hatte ein paar Freunde von früher besucht und wollte zum Abschluß noch abends ins Stoll, mir einen Film ansehen. Es war nach dem Abendessen – ich hatte gerade noch Zeit, in die letzte Vorstellung zu gehen, und kürzte vom Leicester Square über den Covent Garden Market ab. Na ja, und wie ich da so ging – rums! – da fiel eine Bombe, mir direkt vor die Füße, wie mir schien, und dann war es eine Weile nur noch schwarz um mich.«
    »Das war doch der Luftangriff, bei dem Odham in Schutt und Asche gelegt wurde, nicht?«
    »Ja, es war der 28. Januar 1918. Also, bei mir war, wie gesagt, alles futsch. Als nächstes weiß ich nur wieder, daß ich irgendwo im hellen Tageslicht herumspazierte, um mich her grüner Rasen und Bäume und neben mir Wasser, und wie ich dorthin gekommen war, wußte ich ebensowenig, wie der Mann im Mond weiß, wie er da oben raufgekommen ist.«
    »Großer Gott!« entfuhr es Wimsey. »Und Sie meinen, das war die vierte Dimension?«
    »Nein, der Hyde Park. Das merkte ich dann, als ich meine fünf Sinne wieder beieinander hatte. Ich spazierte am Ufer des Serpentine entlang, und da stand eine Bank, auf der ein paar Frauen saßen, und in der Nähe spielten Kinder.«
    »Waren Sie bei der Detonation zu Schaden gekommen?«
    »Es war nichts zu sehen und zu fühlen außer einem großen blauen Fleck an einer Hüfte und Schulter, als ob ich gegen irgendwas geflogen wäre. Ich war ziemlich baff. Verstehen Sie, der Luftangriff war mir völlig aus dem Gedächtnis entschwunden, und ich konnte mir nicht erklären, wie ich hierhergekommen und warum ich nicht bei Crichton war. Ich sah auf die Uhr, aber die war stehengeblieben. Ich hatte Hunger. Ich faßte in die Tasche und fand da etwas Geld, aber es war nicht soviel, wie ich hätte haben müssen – nicht annähernd. Aber ich hatte das Gefühl, etwas zu mir nehmen zu müssen, also verließ ich den Park durch das Tor am Marble Arch und ging in ein Lyons. Dort bestellte ich mir zwei verlorene Eier auf Toast und ein Kännchen Tee, und während ich darauf wartete, nahm ich eine Zeitung zur Hand, die jemand auf einem Stuhl liegengelassen hatte. Tja, und das gab mir dann den Rest. Das letzte, woran ich mich erinnerte, war, daß ich am achtundzwanzigsten aufgebrochen war, um ins Kino zu gehen – und als ich das Datum auf der Zeitung sah, war es der dreißigste Januar! Mir waren irgendwo ein ganzer Tag und zwei Nächte abhanden gekommen!«
    »Schock«, meinte Wimsey. Der kleine Mann akzeptierte die Erklärung und gab
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher