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Wilsberg 05 - Wilsberg und die Wiedertaeufer

Wilsberg 05 - Wilsberg und die Wiedertaeufer

Titel: Wilsberg 05 - Wilsberg und die Wiedertaeufer
Autoren: Juergen Kehrer
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fühlte ich mich wie ein nasser Sack.
    Endlich stand ich aufrecht. Wie viel Zeit mochte inzwischen vergangen sein? Eine Minute? Zwei Minuten?
    Ein Poltern auf der Treppe. Dann ein Lichtstrahl.
    »Georg? Bist du noch da?«
    Ich hörte ein leises Ticken.
    »Kannst du das Ding nicht abstellen?«, fragte ich heiser.
    »Nein.«
    »Wie viel Zeit haben wir noch?«
    Die Armbanduhr leuchtete auf. »Zwei Minuten.«
    »Leg es hin! Und dann raus hier!«
    Mareike schob und zog mich die Treppe hinunter, obwohl ich sie bat, mich zurückzulassen. Am Ende hätten wir es fast geschafft. Die Tür lag unmittelbar unter uns, als es infernalisch krachte. Und dann dauerte es noch einen Bruchteil einer Sekunde, bis uns die Druckwelle erfasste.
    Ich flog. Es war totenstill.
    Vermutlich haben wir beide geschrien, vermutlich herrschte ein Höllenlärm, aber ich hörte nichts. Es war nicht einmal unangenehm. Ich sah mich als Kind, als Jüngling, als Rechtsanwalt, als Briefmarkenhändler, als Detektiv. Und dann sah ich das gotische Kirchenschiff auf mich zurasen. Ich bewunderte die überaus schlanken Säulen mit ihren wunderbaren Laubkapitellen. Ich wollte sie Mareike zeigen, Mareike sollte an meiner Freude teilhaben. Wo war sie nur? Das war mein letzter Gedanke, bevor der Filmprojektor abgeschaltet wurde.

XX
    Im Nachhinein stellten sich die Verletzungen als gar nicht so schwerwiegend heraus. Außer mehreren Rippenbrüchen, ein paar Prellungen und einer schweren Gehirnerschütterung war nicht viel passiert. Das heißt, meine alte Verletzung im Bein war wieder aufgebrochen, sodass ich im Anschluss an den Krankenhausaufenthalt noch eine Zeit lang humpelte.
    Imke hatte es schlimmer erwischt. Sie war nicht, wie ich, in das Kirchenschiff geschleudert worden, sondern im Treppenhaus hängen geblieben. Die Folge waren eine Schädelfraktur und zahlreiche Knochenbrüche. Erst nach einer Woche erwachte sie aus dem Koma, und es dauerte drei Monate, bis sie ohne fremde Hilfe gehen konnte.
    Sobald sie transportfähig war, wurde sie in ein Gefängniskrankenhaus verlegt. Zu der Zeit saß ich schon seit mehreren Monaten in U-Haft. Ich hatte Rechtsanwalt Kurz mit meiner Verteidigung beauftragt, aber seine Anträge auf Haftverschonung wurden regelmäßig abgelehnt.
    Mehrfach wurde ich von Hauptkommissar Stürzenbecher und dem Staatsanwalt vernommen. Als wir unter uns waren, versprach Stürzenbecher, sich vor Gericht für mich einzusetzen. Zu meinen Gunsten sprach, dass ich einen Hinweis auf den bevorstehenden Sprengstoffanschlag gegeben hatte. Und dass der Türmer von Sankt Lamberti, bis auf einen Schock, unversehrt geblieben war.
    Zu meinen Ungunsten sprach, dass man mir die aktive Teilnahme an zwei Aktionen des Kommandos Jan van Leiden nachweisen konnte. Der materielle Schaden war in beiden Fällen beträchtlich. Während der Blechschaden bei der Massenkarambolage am Ludgeriplatz in die Hunderttausende ging, kalkulierten vorsichtige Schätzer die Kosten für eine Restaurierung der Lambertikirche auf mehrere Millionen Mark.
    In seiner Klageschrift verstieg sich der Staatsanwalt zu der Annahme, dass ich von vornherein den genauen Ort des Sprengstoffanschlages gekannt hätte. Seine Beweisführung war einfach, schließlich hatte man mich in der Lambertikirche gefunden. Die Tatsache, dass ich am Morgen des Anschlages die Polizei vor einem solchen gewarnt hatte, wertete er als Versuch, von meiner Mittäterschaft abzulenken.
    Sechs Monate nach meinem untauglichen Flugversuch in der Lambertikirche kam es zum Prozess. Zum ersten Mal sah ich Imke wieder. Sie war sehr bleich und hohlwangig, und ihr früher leuchtend rotes Haar wirkte stumpf und strähnig.
    Ich berührte ihre Hand. »Hallo.«
    »Hallo.« Sie bemühte sich um ein Lächeln, aber ihre grüngrauen Augen blieben kalt.
    »Tut mir leid«, sagte ich.
    »Ist nicht deine Schuld.«
    »Gehen Sie bitte weiter!«, meldete sich der Strafvollzugsbeamte hinter uns.
    Wir saßen zu fünft auf der Anklagebank: Dirk und André, die beiden jungen Burschen, die sie am Ludgeriplatz geschnappt hatten, Tobias Frank, Imke und ich. Weitere Mitglieder des Kommandos Jan van Leiden konnten nicht gefasst werden, weil meine Mitangeklagten den Mund hielten und ich sowieso niemanden namentlich kannte.
    Der Staatsanwalt warf uns vor, eine kriminelle Vereinigung gebildet und zahlreiche Straftaten begangen zu haben, darunter Sachbeschädigung, Erpressung und Körperverletzung.
    Mit Rechtsanwalt Kurz, der mich vor Gericht verteidigte, hatte ich
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