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Willkommen im sonnigen Tschernobyl

Willkommen im sonnigen Tschernobyl

Titel: Willkommen im sonnigen Tschernobyl
Autoren: Andrew Blackwell
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öffnete. Der Text war übersät mit Randbemerkungen in blauer Tinte und der sorgfältigen Schrift einer intelligenten Jugendlichen. Die Frau Doktor hatte es in der Highschool gelesen. Nachts auf der Yatra lag ich im Zelt, umgeben vom leisen Klang der Zimbeln, und dachte an den gewellten Buchrücken, an die Büroklammern zwischen den Seiten. Ich hatte das Buch nicht einmal dabei. Es war in meinem Gepäck, das ich bei einem Freund in Delhi untergestellt hatte. Manche Talis mane muss man nicht bei sich tragen.
    Stattdessen las ich auf meinem Handy die Nachrichten von Fukushima. Es hatte ein Erdbeben gegeben, nach dem Erdbeben einen Tsunami und nach dem Tsunami Kernschmelzen. Jedes Mal, wenn ich nachsah, gab es etwas Neues. Überhitzte Reaktorkerne. Explodierende Reaktorgebäude. In einem Zelt im ländlichen Indien sah ich zu, wie sich die Evakuierungszone ausweitete, von zwei auf zehn, auf zwanzig Kilometer.
    Das alles war unerträglich vertraut. Ich erinnerte mich an Dennis im Briefingraum in Tschernobyl, wie er mit seinem Stock auf das Bild des Mahnmals für die Feuerwehrleute tippte. Ich sah die Karte mit der Kontaminierungszone vor mir, ein verkrüppelter Seestern mit einem Reaktor im Zentrum. Und nun wieder. Wieder wucherte ein entsetzlicher Garten Eden in der Landschaft. Wieder wurden Fünfzig- oder Hunderttausend Menschen gezwungen, zu gehen. Wieder war ein Gespenst in die Welt gesetzt worden, das sie in Angst und Schrecken hielt.
    *
    Im Lager war es ziemlich laut. Der Generator lief die ganze Nacht, und auch die Sadhus arbeiteten in Schichten, um sicher zustellen, dass im Zimbelgebimmel und Hare, Hare keine Pause entstand. Darunter war leises Murmeln zu hören, das ich erst nach einer Weile als eine Predigt von Shri Baba erkannte. Ma hesch, der junge Mann mit dem Laptop und der Webcam, hatte auch einen MP 3-Player mit externen Lautsprechern dabei. Das Erste, was er tat, wenn wir nachmittags das Lager erreichten, war, die Lautsprecher an den Generator anzuschließen und Shri Baba einzuschalten. Bald fand ich sie fast beruhigend, diese endlose Predigt, ein leises Schlaflied, das mich auf dem harten, unebenen Boden in den Schlaf lullte.
    Um fünf Uhr morgens wachten wir wieder auf, Mansi und ich unter den Moskitonetzen. Bei Mansi diente das Netz auch als Sadhu-Schutz. Wir trauten es Creepy Baba oder irgendeinem anderen, nur unvollständig abgeklärten heiligen Mann durchaus zu, in der Hoffnung, Krishna und Radha mit ihr spielen zu können, zu ihr ins Bett zu kriechen.
    Es war Mansis letzter Morgen auf der Yatra. Sie hatte in Delhi zu tun. Als sie bekannt gab, dass sie uns verlassen werde, verkündete auch Creepy Baba plötzlich, er müsse nach Delhi zurück.
    »Oh Gott«, stöhnte Mansi. »Ich werde ihn nie los.«
    Als ich aus dem Zelt kroch, traf ich auf frühmorgendliche asketische Rituale. Immer stand irgendein Sadhu im Zelt gegen über auf dem Kopf, forderte seine Nasenflügel mit yogischer Atmung heraus oder quälte sich mit irgendeiner anderen ehrfurchtsvollen Herausforderung. Aus irgendeinem Grund überraschte es mich jedes Mal. Wenn ich ein Zelt verließ, erwartete ich wohl ein Lagerfeuer oder etwas Trockenfleisch – aber keinen verknoteten heiligen Mann.
    Etwas ernsthafter fragte ich mich, weshalb dort überhaupt keine jungen Umwelttypen herumliefen. Wo waren die Ökos von Delhi und Agra? R. C. Trivedi und Bharat Lal Seth hatten beide angedeutet, dass weltliche Umweltschützer und hinduistische spirituelle Vereinigungen nach Jahrzehnten sinnloser Spal tung zu guter Letzt zusammenarbeiteten. Ich hatte gedacht, In dien wäre der Ort, an dem endlich jemand die Brücke zwischen Naturschutz und Religion schlug. Vielleicht stimmte das ja auch. Aber wo waren sie dann alle?
    Kurz nachdem wir losgegangen waren, trat Mansi die Flucht an und ließ sich mit Sunils Jeep zum Bus bringen. Einen Moment lang sah es so aus, als könnte sie ohne Creepy Baba im Schlepptau entkommen, aber im letzten Augenblick begriff er, was geschah, lief zum Jeep und zwängte sich neben sie. Dann fuhren sie los und Mansi starrte Löcher ins Autodach.
    Einen Monat später mailte ich ihr aus New York und fragte, wie es war, als die Yatra Delhi erreicht hatte. In der Presse hatte ich nicht viel dazu gefunden.
    Sie sagte, sie sei zu der Kundgebung gegangen, es sei längst nicht die vorausgesagte halbe Million Menschen dort gewesen, aber Sadhus aus aller Welt und viele von der Bauerngewerkschaft. Creepy Baba war auch vorbeigekommen, und ein
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