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Willkommen im sonnigen Tschernobyl

Willkommen im sonnigen Tschernobyl

Titel: Willkommen im sonnigen Tschernobyl
Autoren: Andrew Blackwell
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Existenz bereits einige Fliegen angelockt hat. Würdige für einen Augenblick dieses Wunder: In der weiten, heißen, eigentlich nicht sonderlich fliegenverseuchten Ebene der Provinz Uttar Pradesh finden drei, vier Fliegen im Nu deine Kacke und legen Eier darin. Durch die simple Handlung, sich hinter eine Ziegelsteinmauer zu hocken, hast du eine Generation von winzigen Wesen mit unvorstellbarem Reichtum gesegnet. Sie richten sich in deiner Kacke häuslich ein, werden dort geboren, wühlen sich hindurch und essen davon, bis sie eines Tages erwachsen sind, ihre durchsichtigen Flügel ausbreiten und deinen mittlerweile vertrockneten Haufen hinter sich lassen, um eine neue Heimat für ihre eigenen Kinder zu suchen.
    Warte also kurz. Du bist schließlich mit heiligen Männern unterwegs. Nimm dir einen Moment Zeit und betrachte deine bescheidenen Fäkalien, bedenke, dass sie in Delhi ganze Kanäle voll mit diesem Zeug anbeten und denke daran, die Wunder dieser Erde sind unermesslich.
    6. Flieh.
    *
    In der Abenddämmerung setzte sich das Teach-in in Bewegung. Wir rappelten uns nach dem Nickerchen hoch, die Musiker unter uns stiegen auf den Pick-up und wir brachen alle zusammen auf in den nächsten Ort.
    Es war ein kleines Dorf, bescheiden, fast armselig, eine dicht gedrängte Ansammlung von Lehm- und Ziegelsteinhäusern. Vor jedem zweiten Hauseingang zuckte ein Büffel oder eine Ziege. Der Ort war völlig autofrei – und auch frei von Klimaanlagen, Fernsehern und Elektrizität – und musste das platonische Ideal eines sehr geringen CO 2 -Fußabdrucks darstellen. Aber er war irritierend arm. Keine Tagesfahrt entfernt hatte ich die Wohlhabenden von Delhi Zwölf-Dollar-Cocktails in Bars und Lounges schlürfen gesehen, die denen von Manhattan in nichts nachstanden. Nun waren wir hier, scheinbar auf der anderen Seite des Planeten, in einer Welt, in der Energie aus getrockneten Kuhdungfladen gewonnen wird. Die Kluft – kulturell, wirtschaftlich und vor allem zwischen den Klassen – war unvorstellbar tief.
    Ich sag’s jetzt einfach: Indien. Viel chaotischer und weniger homogen, als ich es gewohnt bin.
    Wir stürmten die Stadt mit Hare und Trompeten, zu gleichen Teilen spirituelle Erweckung, politische Kundgebung und Karnevalsumzug. Die Leute kamen aus ihren Häusern und beobachteten uns, wie wir die schmale, schlammige Straße hin unterwirbelten. Die Sadhus sangen und riefen mit voller Kraft und legten sich mit allen Trommeln, Lautsprechern und Zimbeln, die sie hatten, ins Zeug.
    »Kommt, geht ein paar Schritte mit uns!«, plärrte Jai über die Beschallungsanlage. Aber er wurde vom Vorsitzenden der Bauerngewerkschaft, der uns an jenem Nachmittag begleitete, noch übertroffen. Ich erkannte ihn wieder von dem Banner am Pick-up, ein finsterer Bulle von Mann mit einem schmalen Schnurrbart. Am Rand des Örtchens kletterte er auf den Pick-up, knurrte und schrie und schüttelte steif die Faust über dem Kopf. Mehr Wasser sollte in den Fluss geleitet werden, forderte er. Das Abwasser sollte geklärt und verteilt werden. Es war eine schlichte aufwieglerische Version dessen, was mir die Bootsführer in Delhi, die Münzsammler und R. C. Trivedi gesagt hatten. Alle wissen, auf mehr oder weniger durchdachte Weise, wie sich die Yamuna erholen kann: Man muss bloß aufhören, sie zu zerstören.
    Die Musik begann wieder von vorn und unser Zirkus kroch aus der Stadt und zog eine Schar von fünfzig oder sechzig Neugierigen, ausschließlich Männer, hinter sich her. Der Umzug ging schnell in Tanzen und allgemeinen Rummel über. Ein harter Kern hüpfte in bebender Inbrunst herum. Unter den Tänzern waren auch die Bodyguards des Gewerkschaftsführers, die beide diese kleinkalibrigen Gewehre hatten, mit denen alle indischen Sicherheitsleute bewaffnet waren. Ich tanzte komplementär zu ihrem Wirbeln und Springen, bei dem sie ihre Gewehre allzu selbstvergessen schwangen. So tanzten, sangen und tobten wir aus der Stadt heraus zurück ins Lager.
    *
    Den Fluss hatten wir an dem Tag nicht gesehen. »Morgen«, sagte Sunil.
    Ich lag im Zelt und las erneut Moby-Dick  … sozusagen. Der Melville-Bann von der Kaisei war noch nicht aufgehoben. In New York hatte ich mir die alte Ausgabe der Frau Doktor geliehen, ein zerfleddertes Taschenbuch, das mich seither begleitete. Durch Brasilien, China und auf einem halben Dutzend Zwölf-Stunden-Flügen. Trotzdem hatte ich erst zwei Seiten gelesen. Es fiel mir schwer, mich auf das Buch zu konzentrieren, wenn ich es
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