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Willkommen im sonnigen Tschernobyl

Willkommen im sonnigen Tschernobyl

Titel: Willkommen im sonnigen Tschernobyl
Autoren: Andrew Blackwell
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konnte es mir nicht erklären. Stand ich etwa auf Industrieabfälle? Oder war ich eine Art Umweltgaffer?
    Aber das war es nicht. In Kanpur hatte ich etwas entdeckt. Etwas, das mir sonst noch nirgendwo begegnet war. Ich war an einen vollkommen unerwarteten Ort geraten und wurde das Gefühl nicht los, dass ich zwischen den Abwasserrohren und offenen Latrinen etwas gesehen hatte. Eine Spur der Zukunft und zugleich der Gegenwart. Und von etwas unergründlich Schönem.
    Auf der Rückreise sah ich nach, was in meinen Reiseführern zu Kanpur stand. Nichts. Sie hatten die Millionenstadt Kanpur buchstäblich nicht auf der Karte.
    Und für einen Reisenden, der so neugierig ist, einen Ort wie Kanpur interessant zu finden, gibt es schlicht keine Möglichkeit, sich darüber zu informieren.

 

EINS WILLKOMMEN IM SONNIGEN TSCHERNOBYL
    EINS
    WILLKOMMEN IM SONNIGEN
TSCHERNOBYL
    AUSFLUG IN EIN RADIOAKTIVES WUNDERLAND
    Alles begann im Zug. Von Wien nach Kiew, durchgerüttelt in einem Abteil des Kiew Express . Der hatte einen gewissen Aga tha-Christie-trifft-auf-Leonid-Breschnew-Charme: lange, orien talische Läufer in den Gängen, Folie in Holzoptik als Wandverkleidung in den Abteilen und weinrote Sitze, die man zu Liegen umklappen konnte.
    In Wirklichkeit heißt er gar nicht Kiew Express . Wäre er ein Express, bräuchte er keine 36 Stunden. Diese Reise mit dem Zug zu machen, ist keine gute Idee. Ich habe mir die Fahrkarte nur gekauft, weil ich seltsamerweise glaubte, Wien und Kiew lägen nicht weit voneinander entfernt. Tun sie aber.
    Ich fuhr nach Tschernobyl in den Urlaub.
    Züge sind zum Lesen da, deshalb hatte ich zwei Bücher mitgebracht: Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft, eine Sammlung von Interviews mit Überlebenden, und Wormwood Forest, eine Untersuchung der Auswirkungen des Unglücks auf die Umwelt. Ich empfehle sie beide, aber obwohl ich behaupte, dass Züge zum Lesen da sind, tat ich das nicht besonders ausgiebig. In Wahrheit hielt ich ein langes Nickerchen, gelegentlich unterbrochen durch etwas Lektüre.
    Meine Gesellschaft im Abteil war Max, ein rundlicher, heiterer Mann Anfang dreißig. Max’ Stimme war hoch und sein Tonfall eigenartig formell, und er sah aus wie ein groß gewordener Charlie Brown, genauer gesagt: ein in der Sowjetunion groß gewordener Charlie Brown. Er stammte aus Kiew und arbeitete nun in Australien als Programmierer. Er hatte eine liebenswerte Art, auf das Offensichtliche hinzuweisen. Zum Beispiel wenn ich aufwachte, weil das Buch auf den Boden glitt, und beim Blick aus dem Fenster sah, dass wir in einem Bahnhof gehalten hatten, sagte Max: »Wir haben gehalten.«
    In der ersten Nacht durchfuhren wir die Slowakei. Eine herrliche Abenddämmerung senkte sich über die rissigen Schornsteine stillgelegter Fabriken.
    Am Morgen erreichten wir die ukrainische Grenze und rollten in ein chaotisches Depot, wo wir zwischen zwei überdimensionalen Wagenhebern, größer als der Eisenbahnwagen selbst, anhielten. Eine Gruppe mürrischer Bahnarbeiter machte sich daran, an den Rädern herumzuziehen und zu hämmern, und bald hoben die Wagenheber den gesamten Wagen in die Luft, während das Drehgestell unter uns auf den Schienen blieb.
    Die Gleise in der ehemaligen Sowjetunion passen nicht zu den europäischen, wissen Sie. Deshalb wird das Drehgestell ausgewechselt.
    »Das Drehgestell wird ausgewechselt«, sagte Max.
    Am Nachmittag fuhren wir durch die blühende alpine Landschaft der Karpaten, und Max interessierte sich für meine Pläne. Ich beschloss, ihm nicht zu erzählen, dass ich mich auf eine abenteuerliche jahrelange Reise zu den katastrophal verschmutzten Orten der Welt gemacht hatte. Ich sagte ihm nur, dass ich nach Tschernobyl unterwegs war.
    Seine Miene hellte sich auf. Dazu hatte er etwas zu erzählen. Im Frühjahr 1986, als sich die Nachricht von der Katastrophe verbreitete, war er elf Jahre alt und lebte in Kiew. Schnell versuchten die Menschen, ihre Kinder aus der Stadt zu bringen. Es war so gut wie unmöglich, Zugfahrkarten zu bekommen, meinte Max, aber irgendwie gelang es seiner Familie, ihn in einen Zug Richtung Südosten, zur Krim, zu setzen. Obwohl die Fahrkarten so schwer zu bekommen waren, war der Zug fast leer. Max deutete an, die Regierung habe für eine künstliche Knappheit gesorgt, damit die Leute die Stadt nicht verließen.
    »Als wir ankamen, umzingelten Soldaten den Zug. Sie prüften jeden Einzelnen und sein Gepäck mit Dosimetern auf Strahlung, erst dann durfte man weitergehen.
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