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Röslein rot

Röslein rot

Titel: Röslein rot
Autoren: Ingrid Noll
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Röslein rot

    Ein lichter Strauß aus rosa und weißen Rosen, einer Kornblume, gelb-rot geflammten Tulpen, einer Narzisse, einem winzigen Stiefmütterchen und einigen Jasminblüten in einem durchsichtigen Pokal. Durch das Glas schimmern grünliche Blätter und Stengel, das Wasser hat die trübe schwarzgrüne Färbung des abgedunkelten Hintergrunds, das volle Licht fällt auf das helle Kolorit der Blüten. Jede führt ein Eigenleben, wendet sich nach rechts oder links, entfaltet sich, hebt selbstbewußt das Köpfchen oder verbirgt es hinter prächtigeren Schwestern. Eine Ausnahme macht die einzige Knospe unter den Blumen: Geknickt wendet sich das Röslein nach unten, gerade so, als wollte es sich verschämt in der untersten Ecke verkriechen.
    Obwohl rote Rosen eine verhängnisvolle Rolle in meinem Leben spielten, ist diese Knospe mein Liebling. Das zarte Altrosa geht am Stiel in cremiges Gelb über, umgeben von frühlingsgrünen spitzen Kelchblättern. Ein Blättchen rollt sich schüchtern auf, aber das geneigte Köpfchen zeigt, daß die Blume zum Welken verurteilt ist. Daniel Seghers hat dieses Bild vor gut dreihundertfünfzig Jahren gemalt, aber sein Blumenstrauß ist so taufrisch, als hätte man ihn heute im Garten gepflückt. Lilie, Iris und Pfingstrose - die Blumen der Madonna - tauchen hier nicht auf, so daß ich nicht annehme, daß es sich um eine symbolische Anbetung handelt. Der Strauß war für eine ganz normale Frau bestimmt. So wie ich eine bin.

    Aber schon kommen mir wieder Zweifel. Welche normale Frau liebt schon Spinnen und Mäuse? Schon als kleines Mädchen war ich verrückt nach Tieren. Nein, keine Teddys und Plüschtiere, es waren kleine und kleinste Lebewesen, die mich durch ihre zappelige Bewegung zum Jagen und Fangen animierten. Nach Insekten aller Art haschte ich furchtlos in staubigen Ecken, ja sogar eine Hummel ließ ich fasziniert in meinen hohlen Händchen brummen. Noch interessanter waren natürlich Tiere, die sich warm und weich anfühlten - kleine Nager und Vögel. Allerdings gelang es mir nie, ein gesundes Tierchen zu erwischen, es waren stets verletzte, sterbende, hochschwangere. Mein Friedhof war so groß wie Mutters Kräuterbeet, und der Verlust jedes verendeten Gefangenen wurde durch ein allerliebstes Grab gelindert, das ich mit Gänseblümchen und Steinchen zierlich schmückte. Zwar hätte ich, um einer gewissen Sammelleidenschaft Rechnung zu tragen, lieber ein Säugetier statt der fünften Amsel begraben. Dieser Wunsch ging jedoch erst durch ein kompliziertes Tauschgeschäft mit Nachbarskindern in Erfüllung. Sie verlangten für ein totes Meerschwein den Lippenstift meiner Mutter, was sich einrichten ließ.

    Ich habe als Kind einiges angestellt: geöffnete Honiggläser im Garten für die Bienen verteilt, Vaters Bier ausgetrunken, mit Hausaufgaben Handel getrieben, Geld aus dem mütterlichen Portemonnaie genommen, häufig auch gelogen. Das meiste kam nie ans Tageslicht. Falls sie mich aber doch erwischten, blieben meine Eltern völlig gelassen. »Eingedenk dessen, daß du an einem gehobenen Lebensstandard partizipierst«, sagte mein Vater, »solltest du zufrieden sein und nicht gegen Gesetze verstoßen.« Mutter schimpfte sowieso nie, sondern seufzte bloß gelegentlich: »Ach, du dummes Mäuschen!« Manchmal gierte ich geradezu nach Strafe, nach Zorn, nach heftigen Gefühlen meiner Eltern, aber dazu waren beide nicht fähig.

    Mein Vater hat sich im Alter von 5 Jahren zum zweiten Mal verheiratet - mit meiner Mutter, einer um viele Jahre jüngeren Krankenschwester. Ich war kaum auf der Welt, da wurde er bettlägerig, und meine Mutter pflegte ihn fünfzehn Jahre lang, bis zu seinem Tod.

    Seitdem hat meine Mutter ein krankes und ein gesundes Bett; nur uns Familienangehörigen ist der Sinn dieser Begriffe klar. Das herrenlose Bett meines verstorbenen Erzeugers wurde nie aus dem Schlafzimmer entfernt. Ich mußte darin schlafen, bis ich mein Elternhaus verließ. Sicher, in jener Nacht, als mein Vater nach seinem dritten Schlaganfall im Krankenhaus starb, flüchtete ich mich freiwillig in sein Bett, an die Seite meiner Mutter. Aber alle Versuche, mich später wieder in mein eigenes Zimmer zurückzuziehen, scheiterten. Meine Mutter bekam Schwindelanfälle, Kopfschmerzen, panische Attacken, Alpträume. Vielleicht hätte ich mich gegen ihren Terror heftiger wehren müssen, aber ich wurde fortan für das Wohl und Wehe meiner Mutter verantwortlich gemacht und gab nach. Unterschwellig
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