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Röslein rot

Röslein rot

Titel: Röslein rot
Autoren: Ingrid Noll
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Kindheit berichtet hätte, von einem Vater, der ihr ein Puppenhaus bastelte und sie um den ersten Tanz ihres Lebens bat. Immerhin war sie längst erwachsen, als sich Papa meiner Mutter - oder vielmehr meinem neugeborenen Bruder - zuwandte; die Scheidung ihrer Eltern konnte bestimmt keine wirkliche Katastrophe für Ellen gewesen sein. Sie hat einen gesunden Vater in blauen Anzügen erlebt. Ich kannte nur seine gestreiften Schlafanzüge und die Bademäntel in Bordeaux oder Oliv. Sie war mit ihm im Kino gewesen, auf der Kirmes, an der See und auf dem Tanzstundenball. Ich dagegen saß immer nur an seinem Krankenbett, und nach seinem Tod lag ich selbst darin.
    Wenn es heißt, daß ein kleines Mädchen die erste große Liebe durch seinen Vater erfährt, dann bin ich hoffnungslos verkorkst. Er liebte mich nicht und ich ihn genausowenig. Als er starb, war ich erleichtert, ohne allerdings zu ahnen, daß er postum einen negativen Einfluß auf meine künftigen Liebeserlebnisse ausüben sollte.
    Meine Mutter kann es nicht lassen, immer wieder eines meiner Kinder in den Ferien zu sich einzuladen. Obwohl genug Platz in meinem Elternhaus ist und die Kinder sicher ganz gern in meinem ehemaligen Zimmer schlafen würden, weiß ich doch genau, daß Mutter ihre Enkel neben sich ins kranke Bett zwingen würde. Ich habe unter windigen Ausreden stets verhindert, daß sie bei meiner Mutter übernachten. Soll sie doch mit den Teddys glücklich werden.
    Im übrigen habe ich die Theorie, daß das kranke Bett an meinen bösen Träumen schuld ist. Gewiß führen alle Menschen im Schlaf ein zweites Dasein, aber bei den meisten wechselt sich doch Unangenehmes mit Erfreulichem ab. Meine Freundin Silvia berichtet immer wieder von lustvollen Erlebnissen im Traum, bei denen sie nicht sicher ist, ob sie ihr tatsächlich einen echten Höhepunkt bescheren, so daß sie für die nächsten Tage befriedigt ist. Auch meine Kinder träumen von Goldmedaillen, lebenslanger Freundschaft mit Winnetou oder einem zwei Meter großen Gummibären. Nichts davon bei mir. Peinlichkeiten, Demütigungen, Liebesverlust, Erwischtwerden, häufig sogar Todesangst beherrschen mein Nachtleben. Es gibt Menschen, die sich vor solchen Vampiren mit Kruzifixen oder Knoblauch schützen, doch das hat bei mir nicht funktioniert. Neuerdings versuche ich, mich in die Betrachtung eines Gemäldes zu versenken, um zur Ruhe zu kommen und eine traumlose Nacht zu verbringen. Ich besitze zwei dicke Kunstbücher mit Abbildungen barocker Stilleben.

Mäuschenstill

    Obwohl ein Stilleben eigentlich nur leblose oder unbewegte Gegenstände beinhalten soll, gibt es Ausnahmen wie die kleinen Nager auf meinem zweiten Lieblingsbild. Die drei braunen Mäuse sind dem Maler Ludovico di Susio derart winzig geraten, daß sie beinahe in einem Fingerhut Platz fänden. Um so größer fallen die Zitrusfrüchte aus - die goldgelbe Zitrone, die leuchtende feinporige Orange, rotglänzende Äpfel, Nüsse, mit Puderzucker bestreutes Naschwerk, ein Obstmesserchen auf dem blankpolierten Zinnteller laden zum Zugreifen ein. Erst auf den zweiten Blick ertappt man die Mäuschen, die sich eine Mandel teilen. Ganz leise huschen sie spätnachts herein und mausen, was das Zeug hält. Wer feine Ohren hat, wird sie knuspern und wispern hören, wer fest schläft, wird sicherlich nicht geweckt.

    Wahrscheinlich gibt es viele Eltern, die ihre kleine Tochter »Mäuschen« nennen; doch bei mir hatte es die besondere Bewandtnis, daß ich bereits mehrmals eine vergiftete Maus gefangen und so lange im Puppenwagen gepflegt und spazierengefahren hatte, bis ich sie ohne schlechtes Gewissen beerdigen konnte. Meine Freundin Lucie hat, wie sie erzählte, im selben Alter Friseuse gespielt und einem Kater die Schnurrbarthaare abgeschnitten - wir hätten uns schon damals gut ergänzt.

    Wenn meine Eltern schon lange im Bett lagen, wurde ich aktiv. Im Hemd geisterte ich durchs Haus, stibitzte Pralinen, tanzte vorm Fernseher, der ohne Ton lief, öffnete den Safe, um mit Bargeld zu spielen, und trennte ein Stück des Pullovers auf, an dem meine Mutter tagsüber strickte. Bei diesen Taten verspürte ich stets große Angst und noch größere Lust. Eigentlich wollte ich irgendwann ertappt werden und vor Schreck maßlos schreien. Aber es war alles vergeblich, auch am nächsten Tag wurden die Spuren meiner nächtlichen Ausschweifungen nie wahrgenommen. Ich gab auf. Das Flämmchen meines Temperaments erlosch unter einer dicken Glasglocke, meine Gefühle
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