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Willkommen im sonnigen Tschernobyl

Willkommen im sonnigen Tschernobyl

Titel: Willkommen im sonnigen Tschernobyl
Autoren: Andrew Blackwell
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Sie wollten vermeiden, dass die Leute alles kontaminierten«, erzählte Max.
    Er blieb den ganzen Sommer fern von Kiew. Von seinen Eltern hörte er Geschichten über das Leben in der Stadt in diesen Monaten. Die Straßen wurden jeden Tag abgespritzt. Bäckereien, die ihre Ware früher offen auf Regalen angeboten hatten, wickelten sie nun in Plastik.
    Max sprach darüber, dass die Krebsrate in der Region vermutlich wegen Tschernobyl gestiegen sei, und erzählte mir, dass seine auch aus Kiew stammende Frau Anomalien an der Schilddrüse aufwies, die er ebenfalls der Strahlenbelastung zuschrieb.
    »Kiew hatte Glück, dass es dank des Windes nicht mehr Strahlung abbekommen hat«, sagte er und fragte dann in seiner höflichen, aber knappen Sprechweise: »Und was halten Sie von Kernenergie?«
    In dieser Nacht wälzte ich mich schlaflos auf meiner Liege und stellte mir – wie es nur ein Amerikaner kann – die postsowjetische Finsternis vor, die draußen an uns vorbeizog, spürte, wie der Zug rüttelte, als er sich durch den dichten Äther eines ehemaligen Großreiches schob. In dem Buch mit den Geschichten von Tschernobylopfern las ich einen Bericht von der Witwe eines Feuerwehrmannes. Sie waren frisch verheiratet, als der Mann zu dem Brand im Reaktor abkommandiert wurde. Als einer der Ersten am Ort des Geschehens bekam er katastrophale Strahlendosen ab und starb nach zwei Wochen grauenhafter Krankheit.
    Aus verzweifelter Liebe zu ihm hatte sich seine Frau ins Krankenhaus geschlichen, um ihm in seinem Martyrium beizustehen, obwohl die Radioaktivität seines Körpers auch für sie bedrohlich war.
    »Ich weiß nicht, was ich erzählen soll«, sagt sie in ihrem Bericht. »Vom Tod oder von der Liebe? Oder ist das ein und dasselbe?«
    *
    Kiew ist eine schöne Stadt, ein wahres Paris des Ostens, eine bezaubernde Metropole, von deren Rosskastanienwäldern sich die alten Kirchen und klassischen Wohnhäuser abheben wie Juwelen von einem grünen Samtkissen. Der Trick ist, im Sommer zu kommen, wenn ein laues Lüftchen über den Dnjepr weht, und die Bars und Cafés an den milden Abenden zum Bersten voll sind. Man kann den Andreassteig entlangschlendern, vorbei an Cafés und Geschäften, oder die geheimnisvollen Katakomben des Kiewer Höhlenklosters mit ihren toten Mönchen erforschen. Oder man stürzt sich in das pulsierende Nachtleben im Stadtzentrum.
    Ich ging als Erstes ins Tschernobyl-Museum.
    Jedes Museum zu einem lokalen industriellen Störfall stellt eine spezielle Mischung aus Grauen und Bürgerstolz aus, und in dieser Hinsicht ist das Tschernobyl-Museum sicher herausragend. Es vereint Geschichte, Gedenken, Kommentar, Kunst, Religion und sogar Mode unter einem kuratorischen Ethos, das als Mutant aus verschiedensten Kunstlehren hervorgegangen ist.
    Einer der beiden Hauptsäle des Museums war als bizarrer, tempelähnlicher Raum gestaltet. Beruhigende russische Choräle erfüllten ihn. In der Mitte auf dem Fußboden befand sich eine Abbildung des berüchtigten Reaktors von oben in Realgröße. Darüber schwebte ein Einbaum voll mit religiösen Bildern und Plüschtieren. Ich gab mir Mühe, die Botschaft des Raumes zu verstehen, aber es gelang mir nicht. Leere Schutzanzüge hingen unbeleuchtet in verwirrten und gelangweilten Posen herum.
    Im zweiten Saal befand sich eine umfangreiche Sammlung von Tschernobyl-Erinnerungsstücken sowie ein hohes Gerüst, an dem Schaufensterpuppen in Strahlenschutzanzügen hingen. Es sah aus, als flögen sie in Formation, eine Truppe kurioser Superhelden. Der Anführer hatte die Arme erhoben und trug einen schwarzen Feuerschutzanzug mit breiten weißen Strei fen sowie einen metallenen Rucksack mit Gasmaske. Hinter dem Gesichtsschutz des Helmes konnte ich den kühlen, starren Blick aus einem weiblichen Kopf mit dichten Wimpern und roten Plastiklippen ausmachen.
    Darunter befand sich ein Modell des Reaktorgebäudes im Querschnitt vor dem Unfall. Als ich genauer hineinblickte, um mir anzusehen, wie ein Reaktor innen funktioniert, bemerkten zwei Museumsführerinnen von der Tür aus mein Interesse. Sie näherten sich mit der brüsken Autorität von Wärtern und fummelten an einer Schalttafel am Sockel herum, um das Modell anzuschalten. Es glühte sanft und im Reaktorkern zirkulierte das Wasser ordnungsgemäß. Doch die beiden Frauen waren nicht zufrieden. Sie schimpften auf Ukrainisch und ließen den Schalter vor- und zurückschnellen, rüttelten immer heftiger an der Schalttafel und schlugen dagegen.
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