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Willkommen im sonnigen Tschernobyl

Willkommen im sonnigen Tschernobyl

Titel: Willkommen im sonnigen Tschernobyl
Autoren: Andrew Blackwell
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anderer Sadhu hatte sie bei der Hand genommen und nach vorn aufs Podium gezogen. Reden wurden gehalten und man fantasierte ein wenig darüber, mit einem Vorschlaghammer zum Damm in Wazirabad zu gehen. Aber davon nahm niemand in Delhi Notiz.
    »Traurig«, schrieb Mansi. »Sie sind so viele und es gibt keinerlei Berichterstattung.« Es schien, als hätte die Presse sich Anfang des Monats verausgabt, als sie über einen Antikorruptionshungerstreik berichtet hatte. Letzten Endes schenkte Delhi der Yamuna-Yatra so viel Aufmerksamkeit wie dem Fluss selbst.
    *
    Ich begleitete die Yatra noch ein paar Tage länger. Da Mahesh ein ganz ordentliches Englisch sprach, führte er sich selbst als meinen neuen Betreuer ein.
    »Ich bin jetzt dein Übersetzer!«, sagte er, während er mit weit schwingenden Armen neben mir ging. »Ich werde dir sooo viele Geschichten über Krishna erzählen!«
    Mahesh, ernst, aber immer lächelnd, sah eher wie ein junger Informatikabsolvent aus als wie ein Sadhu, aber seine Begeisterung für Krishna war unübertroffen. So bekam ich Erzählungen und Exkurse über Krishna und den Himmel zu hören, über Krishna und den Mann im Brunnen, wie Krishna »böse« war und »Wasser diebstahlte«. Darüber, wie Krishna seinem Gesandten befahl, »die Frauen wollüstiger« zu machen und ihn dann bezwang, weil er ihn deswegen kritisierte. Darüber, wie Krishna den Menschen gebot, Hügel und Wälder anstelle von Indra zu verehren.
    Mahesh über Sünde. Mahesh darüber, dass man Krankheiten vorbeugen konnte, indem man Krishna anrief. Mahesh erneut über Sünde. Mahesh darüber, dass er so viele Sünden begangen habe. Sooo viele! Ich fragte mich langsam, um welche Sünden es hier ging. Die Sünde der Bindung? Die Sünde, voller Fäkalien und Urin zu sein? Die Sünde, zu einer zerstörerischen Gattung zu gehören? Oder etwas anderes, das eigentlich nicht als Sünde gelten sollte? War die Sünde etwas, das er getan hatte? Etwas, das er tun wollte? Etwas, das ihm angetan wurde?
    Wir gingen. Wir pilgerten. Wir machten aus unseren Herzen einbalsamierte Reliquien. Mahesh darüber, wie man mit Krishna an seiner Seite Autounfälle noch im letzten Augenblick verhindert. Wie jemand, der einen schlagen will, es nicht kann. Wie jemand, der einen erschießen will, nicht trifft. So viele Dinge. Sooo vieles, Gore Krishna! Die Geschichten von Krishna sind wahr. Es sind nicht nur heilige Schriften, nein, das ist Wissenschaft!
    Ich ging im festen Griff der Fürsorge des Sadhus ein, fürchtete mich schuldbewusst vor der zweiten, dritten und vierten Portion Essen, die mir mit lächelnder Beharrlichkeit serviert wurden. Mein Bauch war aufgebläht von all den Linsen und dem Brot, aber ich hatte keine Wahl. Ließ ich das Mittagessen einmal aus, versetzte das fast die ganze Yatra vor Sorge in Aufregung.
    Maheshs Fürsorglichkeit kannte keine Grenzen. Hatte ich etwas gegessen? Hatte ich genug gegessen? Hatte ich meine Hände gewaschen? Mit Seife? Ob ich ein Bad nehmen wolle? Ob ich wisse, dass ich das unter dem Hahn des Wassertanks tun könne? Ob er mir zeigen solle, wo ich dieses Bad nehmen könne? Würde ich nun baden? Wann hatte ich zuletzt gebadet? Ich wurde nicht gerne darauf aufmerksam gemacht, dass ich hier draußen weniger selbstständig war als ein Fünfjähriger.
    »Bist du im Wald gewesen?«, fragte er mich nach dem Mittagessen.
    »Im Wald?«, fragte ich zurück.
    »Im Wald! Bist du nicht, na ja, ablassen gegangen? Toilette? Zwei oder drei Tage …«
    »Oh. Doch.« Ich erstattete Bericht. »Ich bin gestern gegangen und vorgestern auch. Keine Sorge. Drei Tage ohne, das ist unmöglich.«
    »Alles ist möglich!«, sagte er.
    Und wir hatten den Fluss immer noch nicht gesehen. »Morgen«, sagte Sunil. »Morgen kommen wir zum Fluss.«
    *
    Zugleich wurde etwas in mir immer überzeugter vom Leben als Sadhu. Abends saßen wir dicht gedrängt in einem einzigen Zelt, trommelten und sangen, und ließen mit den Zimbeln auch unsere kulturellen Unterschiede aufeinandertreffen. Der junge Mann, der den Gesang anführte, war der beste Sänger und Trommler der Yatra. Er machte wahrscheinlich gut fünf Stunden täglich leidenschaftlich Musik, auf dem Pick-up oder abends im Lager. An diesem Abend nahm er Verse aus einer vor ihm liegenden heiligen Schrift und legte die Stirn in Falten, während er eine Melodie ausarbeitete und sie schließlich der Gruppe präsentierte, die ihm mit kehligem musikalischen Geschrei antwortete.
    An meinem letzten Abend
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