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Willkommen im sonnigen Tschernobyl

Willkommen im sonnigen Tschernobyl

Titel: Willkommen im sonnigen Tschernobyl
Autoren: Andrew Blackwell
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Gebiete, zurückblicken auf Tausende Meilen, aus jedem Ort das Wesentliche ziehen und sagen, was das alles bedeutete. Aber hatte ich das nicht bereits getan? Dass nach dem Schönen und Unberührten zu jagen bedeutete, einen Großteil der Welt zu ignorieren? Dass auch das Unnatürliche natürlich war? Oder war es genau umgekehrt?
    Begonnen hatte es im Zug nach Tschernobyl, und ich hatte versucht, ihm zu folgen, über Meere, durch Minen und Wälder, vorbei an einer Reihe unheimlicher Monumente unserer Art. Ich versuchte etwas zu erkennen. Ein Asteroid schlug in den Planeten ein und ich wollte wenigstens einen kurzen Blick darauf werfen. Doch das war unmöglich, denn wir waren dieser Asteroid. Die Welt war ruhmlos untergegangen. Aber zugleich ging sie auch nicht unter. Wir bewohnten eine Welt, die untergegangen war und zugleich nicht, eine Welt nach dem Ende der Welt. Die Welt mit uns. Eine veränderte Welt. Ein gähnend leerer Krater und eine neue Natur, die darüber sprießt.
    Das ist die Welt, wie sie ist, nicht, wie wir sie gerne hätten.
    Doch vor allem marschierten wir. Und ich wartete auf das Gefühl. Es kam immer morgens. Auf der Straße, bevor die Sonne aufging, reihten sich die Sadhus auf, der dickbäuchige Baba entwischte gerade noch einem entgegenkommenden Lkw, und wir brachen auf. Jemand hatte den Pick-up mit einer weißen Flagge mit grünem Rand geschmückt – der flatternden Standarte der Bauerngewerkschaft. Ich hielt mich im Hintergrund und beobachtete unseren Zug, den kleinen Haufen merkwürdiger Typen, eine unordentliche Reihe von angeblich heiligen Männern, die auf dem Seitenstreifen eines Highways nach Delhi wanderten. Der Nachtnebel noch auf den Feldern und die Sonne hinter uns knapp über dem Horizont – da überkam es mich, das Gefühl. Es begann in den Beinen, kroch über den Rücken den Nacken hinauf, lief über die Ohren, die Augen, das Gesicht und die Kopfhaut, strömte in die Luft über meinem Kopf und leuchtete in der Sonne auf, und dann war es Tag. Das geschah tatsächlich. Jeden Morgen durchflutete mich diese Dankbarkeit, während wir so liefen und liefen wie Marionetten zu einer ungewissen Musik.
    *
    Erst nachdem wir bereits einige Minuten im Lager waren, wurde es mir klar: Wir waren nicht am Fluss gewesen. Am nächsten Tag würde ich nach Delhi zurückkehren. Meine Yamuna-Yatra war völlig ohne Yamuna ausgekommen.
    »He, Sunil, was zum Geier …?«
    »Gore Krishna!«, rief er. Ich solle mir keine Sorgen machen. Wir würden den Fluss sehen. Er hatte eine Exkursion geplant. Mit einem halben Dutzend anderer Leute zwängte ich mich am Nachmittag in den Jeep und Sunil gab Gas.
    Als wir westwärts fuhren, wurde die Luft heißer, die Erde härter und die Weizenfelder höher und heller. Nach vierzig Mi nuten und mehreren kurzen Stopps zur Orientierung, bog Sunil rechts ab in eine enge ausgedörrte Schlucht. Im Staub lagen festgebundene Ruderboote. Wir waren am Rand des Überschwemmungsgebiets.
    Wir verließen die Schlucht wieder und sahen in der Ferne einen Streifen Wasser hinter einem weiten Bogen sandigen Buschlands. Die Yamuna, endlich.
    Aber wenn ich geglaubt hatte, der Anblick des Flusses würde zu irgendwelchen Ehrfurchtsbekundungen der Yamuna-Yatra-Sadhus führen, hatte ich mich getäuscht. Sie schienen sie gar nicht zu bemerken. Sunil war mitten in einer seiner vielen Geschichten, im Auto kringelten sich alle vor Lachen.
    »Was sagt er?«, fragte ich Mahesh.
    »Er erzählt einen Witz«, sagte er japsend.
    »Schon klar«, sagte ich. »Worum geht es in dem Witz?«
    »Ja!«, sagte er, immer noch lachend.
    »Nein, Mahesh. Was für ein Witz war es? «
    »Es ist ein … ziemlich anderer, so eine Art von Witz.«
    Unser Ziel war der Aussichtspunkt an einem Tempel am steilen, gegenüberliegenden Flussufer. Wir überquerten eine provisorische Brücke, die aus großen Stahlpontons und rissigen Balken gebaut war und von fünf Männern bewacht wurde, die neben einer Hütte saßen. Die Yamuna glitzerte im Licht des Spätnachmittags. Auf der anderen Seite schoss Sunil auf einer Schotterpiste den Hügel hinauf, an niedrigen Lehmhäusern und einem riesigen Banyanbaum vorbei. Schließlich parkte er am Tempel. Einer nach dem anderen stiegen wir aus dem Jeep und gingen auf dem Weg zum Aussichtspunkt an zwei Turmruinen vorbei. Vom Felsvorsprung aus sahen wir grüne Felder zum Flussufer hin abfallen. Zwei Fischer fuhren in kleinen Booten übers Wasser.
    Das war Panchnada, der Zufluss, von dem R. C.
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