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Willkommen im sonnigen Tschernobyl

Willkommen im sonnigen Tschernobyl

Titel: Willkommen im sonnigen Tschernobyl
Autoren: Andrew Blackwell
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Trivedi mir erzählt hatte. Fast fünfhundert Kilometer unterhalb von Delhi strömten vier Nebenflüsse zusammen, speisten eine gewaltige Wassermenge in die Yamuna ein und verdünnten endlich das sauerstofflose Wasser. In der Ferne sahen wir den Zufluss – die Zuflüsse, vielmehr. Aus einem Gewirr von Kurven und mäandernden Zuströmen ging die Yamuna zu guter Letzt sauber hervor – fast sauber – trotz allem, was man ihr angetan hat. Sie war gezwungen worden, in den Grund zu sickern, in Kanälen und gegen Dämme zu schwappen, sich durch die Gedärme von 16 Millionen Menschen zu schlängeln und zahllose weitere Verwandlungen durchzumachen – und doch floss sie immer noch. Vielleicht muss sie das Ende der Menschheit abwarten, um unter weniger Strapazen fließen zu können.
    Auf dem Rückweg, ungefähr hundert Meter hinter der Brücke, verschluckte der tiefe, trockene Sand des Überschwem mungsgebiets die Reifen bis zu den Achsen. Wir stiegen aus und schoben den Jeep unkoordiniert in verschiedene Richtungen. Etwas weiter entfernt sahen wir einen Lastwagen und einen Jeep, die dasselbe Problem hatten. Das hier war eine Autofalle.
    »Gore Krishna hat uns in Schwierigkeiten gebracht!«, rief Sunil, ließ den Motor aufheulen und die Räder rotieren. (Sieh mich nicht so an, Sunil – ich wollte zu Fuß gehen.) Mahesh hockte sich neben einen Reifen und schaufelte mit den Händen Sand weg. »Krishna macht alles möglich!«, sagte er. Mit jeder Handvoll Sand, die er wegschaffte, rieselte mehr Sand hinein.
    Ich ging zurück zur Pontonbrücke. Die Männer neben der Brückenwärterhütte ließen mich die Rampe hinaufklettern und auf den Stahlplatten der Fahrbahn stehen. Ich sah auf den Fluss. Sacht umspülte er die Brücke, deren Stahlseile unter der Belastung quietschten. Frische, süßliche Luft entströmte dem Wasser. Flussabwärts wurde eine neue Brücke gebaut, eine richtige Autobrücke auf hohen Betonpfeilern.
    Die Männer kamen ebenfalls auf die Rampe, um zu sehen, was ich da tat. Ihr Englisch war fast so schlecht wie mein Hindi, trotzdem begannen wir ein Gespräch. Der Brückenwärter sagte, er heiße Tiwari und stellte mir auch alle anderen vor. Ich fotografierte sie und zeigte ihnen die Aufnahme.
    Tiwari konnte irgendwie verständlich machen, dass die Brücke nur saisonal genutzt wurde: Sie war für die trockenen Monate von November bis Mitte Juni gebaut worden. Während des Monsunhochwassers wurde er Bootsführer und transportierte die Menschen mit einem vierkantigen, flachen Boot, das neben der Brücke angebunden war, auf die andere Seite. Ich wusste nicht, wie ich ihn fragen sollte, ob er den Job behalten könnte, wenn die neue Brücke fertig war.
    Sie fragten nach meinem Namen. »Andrew«, sagte ich. » Andru«, wiederholten sie. Sie fragten nicht, warum ich dort war, wer ich war oder wohin ich ging. Aber sie wollten wissen, ob ich auf dem Fluss gewesen sei.
    »Nicht hier«, antwortete ich, »in Delhi.« Ich hielt mir die Nase zu. Sie schüttelten den Kopf und schnalzten missbilligend mit der Zunge. Aber sie lächelten. Ich schüttelte Gorokhpur – ich glaube, er war es – die Hand, sein runzliges Gesicht war ganz zerknittert vom Lachen, und ich lachte auch.
    Mir wurde klar, dass hier einige meiner fünf, sechs Worte Hindi passen könnten.
    »Ye pani acha hai?«, tastete ich mich vor. Ist dieses Wasser gut?
    Beinahe hätten sie applaudiert. » Ja!«, sagten sie. » Dieses Wasser ist gut.«
    »Delhi pani bahot acha nehi hai«, sagte ich, schon mutiger. Das Wasser in Delhi ist nicht so gut.
    »Nein«, bestätigten sie. » Ist es nicht.« Einer von ihnen zeigte flussaufwärts. »Panchnada«, sagte er und dann löste sich sein Satz in filigranes Hindi auf. Ich holte mein Notizbuch hervor und wir begannen zu zeichnen. Wir zeichneten die Yamuna und die vier Zuflüsse, die Finger einer Wasserhand, mit der Potonbrücke als Armband, das zur Handfläche hochgerutscht war.
    »Dort, wo die fünf Flüsse sich treffen, wird das Wasser gut«, sagten sie. Tiwari machte mit ausgestrecktem Arm eine Geste den Fluss hinunter. Diesmal hatte er das englische Wort parat.
    »Reinigen«, sagte er. »Yamuna reinigen.«
    Flussaufwärts ging die Sonne unter. Von dem Tempel auf der Anhöhe am anderen Ufer war nur noch die Silhouette zu sehen. Die Luft, die vom Wasser aufstieg, hatte sich abgekühlt. Ich warf einen letzten Blick auf die Yamuna. Dort, wo sie wieder zum Fluss wurde.
    Dann verabschiedete ich mich von den
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