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Willkommen im sonnigen Tschernobyl

Willkommen im sonnigen Tschernobyl

Titel: Willkommen im sonnigen Tschernobyl
Autoren: Andrew Blackwell
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war; ob er sich vielleicht mit einem erfolgreichen Leben als Sadhu, durch das er göttlich geworden war, eine Art Freifahrtschein verdient hatte, um sich als junger Mann in Braj zu amüsieren. Als ich ging, diskutierten sie immer noch.
    *
    In der Nacht, als alle Sadhus schliefen, kroch ich aus meinem Zelt und ging in den Wald zum »Ablassen«, wie Mahesh sagen würde. Auf dem Rückweg blieb ich auf dem Flecken Weideland hinter dem Lager stehen.
    Der Vollmond leuchtete klar und kühl und wunderbar hell. Es war ein Supermond – extrem nah an der Erde, der größte Vollmond seit zwanzig Jahren. Die Landschaft schimmerte schwarz-weiß, die Kühe und Büffel lagen reglos wie dunkle Fels brocken auf der trockenen, festen Erde. Ein Kuhhirte raschelte unter seiner Decke.
    Das Rätsel um Krishna und Radha schwirrte mir im Kopf. Ich hatte nicht unterscheiden können, wen von den beiden die Sadhus eigentlich verehrten, oder ob es die Beziehung selbst war, die tiefste Ehrfurcht verlangte, eine Liebesbeziehung, die eine eigene Gottheit war.
    »Zwei Körper, aber ein Körper«, hatte Ravinder gesagt.
    Die Liebe zwischen Radha und Krishna war keine bloße Liebe gewesen. Sie hatte die Liebe der Menschen zu Gott geweckt. Es war die ideale Verbindung zwischen dem Menschlichen und dem Göttlichen, verkörpert in der ewigen Liebesgeschichte zweier junger Gottheiten.
    Ewig war sie, aber sie hielt nicht für immer. Sie endete, als Krishna die Hügel seiner Jugend verließ, um sein Schicksal als Krieger und Herrscher zu erfüllen. Es heißt, ohne Radha als Muse habe er die sagenumwobene Flöte niedergelegt. Später heiratete er eine Prinzessin in Dvaraka und hatte Kinder mit ihr. Was mit dem Hirtenmädchen Radha geschah, weiß ich nicht.
    *
    Wir gingen. Das war eine gute Art zu reisen – man zog langsam an den Feldern vorbei, roch die Luft und spürte die Abgase der Lastwagen. Noch immer war die Yamuna nicht in Sich. »Später«, sagte Sunil. Wir liefen wie immer am Highway entlang. Die Lkws ließen beim Vorbeifahren ihre kunstvollen Hupen schmettern, mal melodiös, dann wieder ohrenbetäubend. Es wäre schön, sich vorzustellen, dass sie aus Solidarität mit der Yatra hupten, aber wie in vielen anderen Ländern gehört es in Indien zum Verkehr einfach dazu – wenn man an einem anderen Wagen vorbeifährt oder überholt wird, wenn man etwas am Straßenrand sieht oder wenn man nichts am Straßenrand sieht.
    Es war Morgen. Und ich sah Dinge. Ein orangefarbener Fleck überquerte eine Fläche mit gefiederten Ähren. Es war eine Frau, sie wandte sich um, der leuchtende Stoff des Saris bedeckte ihren Kopf, eben sichtbar über dem Korn. Ein Sadhu mit einem ockerfarbenen Streifen auf der Stirn pflückte eine Handvoll Kichererbsenzweige vom Rand eines Feldes, gab mir einen und wir aßen die Früchte. Der hohe Schornstein einer Ziegelei, dann noch einer und noch einer. Dunkle Wolken stiegen daraus in den Himmel auf. Wir gingen dicht an einem vorbei. Auf einem von Ziegelsteinmauern umgebenen Gelände karrten Männer Ziegelsteine zu einem Brennofen aus Ziegelsteinen unter einem hohen Schornstein aus Ziegelsteinen. Ein Pfau stand auf einer bröckelnden Ziegelsteinwand, schillernd im Staub. Als sie unsere Lautsprecher hörten, hielten die Arbeiter inne und sahen uns zu, wie wir vorüberzogen, und wir winkten einander zu.
    »Bauern, kommt nach Delhi!«, skandierten die Sadhus. »Kommt alle nach Delhi!« Wir waren dreißig Personen.
    Ein auffliegender Papageienschwarm, dann schwebte eine Schar Saruskraniche über unsere Köpfe und landete auf einem Feld, jeder von ihnen so groß wie ein Mensch, nur schöner. Glatte, graue Federn bedeckten ihre Körper, etwas Rot blitzte an den Köpfen auf. Wie ich höre, werden sie in Indien als Symbole des Eheglücks, bedingungsloser Liebe und Hingabe verehrt. Die Art gilt als gefährdet, vielleicht sogar schon stark.
    Die Frau Doktor und ich hatten uns E-Mails geschrieben. Von New York nach Linfen und Delhi, und hier, unterwegs, hallten die mitfühlenden Worte über die Distanz zwischen zwei auseinanderlaufenden Leben wider und bildeten unseren Abschied.
    »Bitte sei nicht traurig«, schrieb sie. »Meine Liebe begleitet dich überallhin.«
    Wir marschierten weiter.
    Ich sollte es zum Abschluss bringen, dachte ich. Das Ende der Geschichte war nah, ein Stück den Highway hinunter, wo die Straße auf den Fluss traf. Ich sollte mich auf diesen Moment vorbereiten, sollte nachdenken über meine Reisen in verschmutzte
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