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Willkommen auf Skios: Roman (German Edition)

Willkommen auf Skios: Roman (German Edition)

Titel: Willkommen auf Skios: Roman (German Edition)
Autoren: Michael Frayn
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größer. Nicht einen halben Meter groß wie der Mond. Eine Kiste. Nicht eineinhalb Meter groß wie die Kiste mit Schiffsdieselersatzteilen. Zwei Meter, zweieinhalb Meter. Und Zentimeter um Zentimeter noch mehr davon. Und noch mehr. Drei Meter, dreieinhalb Meter. Jetzt der Aufdruck, im Mondlicht gerade noch lesbar. Diesmal nicht Schiffsdieselersatzteile. Kühlanlage.
    »Los, los!« flüsterte Reg Bolt ungeduldig in sein Walkie-Talkie, während er zusah. »Der Vortrag wird zu Ende sein, bevor sie auch nur halb den Berg runter ist.«
    Dr. Wilfred wurde bewusst, dass sich Mrs. Toppler ihm zugewandt hatte, und hörte im nachhinein die zuletzt gesagten Worte, die sie noch umschwebten: »… sind nicht hier, um mir zuzuhören … erteile ich kurzerhand …«
    Er hörte Applaus und Geräusche von Leuten, die zum Leben erwachten. Jemand beugte sich vor und stellte das Mikrofon vor ihn hin.
    Er stand auf. Er lächelte und strich sich das Haar aus den Augen. Er nickte erst Mrs. Toppler anerkennend zu, dann dem Publikum. Er wartete, bis der Applaus verklungen war, und ließ den Blick seiner sanften braunen Augen über die Agora schweifen, von links nach rechts, von vorn nach hinten. Plötzlich fühlte er sich überhaupt nicht mehr wie Dr. Wilfred, sondern wie der alte Oliver, der er schon so oft gewesen war, vor dem sich der vertraute Abgrund auftat, nur tiefer und dunkler als je zuvor. Aus den Tiefen griff das Gravitationsfeld der Erde nach ihm, zog ihn hinunter, zerrte an den Nerven seiner Beine, seines Bauchs, seines ganzen Körpers.
    Er holte zweimal tief Luft und öffnete den Mund.

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    Jetzt waren also all die vielen Elemente, die den Höhepunkt der diesjährigen großen europäischen Hausparty bilden würden, an Ort und Stelle. Die unterschiedlichen Handlungsstränge waren offenbar kurz davor, sich zu vereinigen, um in einem einzigartigen Ereignis von großer Komplexität und Tragweite zu kulminieren. Dem Showdown. Der großen Auflösung.
    Was genau für eine Form dieses Ereignis annehmen würde, wusste zu diesem Zeitpunkt niemand und konnte es auch nicht wissen. Die meisten Beteiligten hegten zweifellos Erwartungen der einen oder anderen Art, doch auch diese waren konfus und unbestimmt und hoffnungslos vermischt mit dem, was sie wollten , dass passierte, oder hofften , dass passieren würde, oder fürchteten , dass passieren könnte. Wie auch immer, keiner von ihnen hatte eine mehr als oberflächliche Kenntnis der entscheidenden Faktoren – oder viel Zeit, um darüber nachzudenken, da der gegenwärtige Moment der Stase, in dem Oliver Luft holte und den Mund öffnete, um zu sprechen, so kurz war.
    Hätten sie in einer Geschichte gelebt, hätten sie sich natürlich denken können, dass irgendwo irgend jemand den Rest des Buches in Händen hielt, und dass das, was gleich passieren würde, sich bereits in den gedruckten Seiten befand, feststehend, unveränderlich, ein für allemal existent. Nicht, dass es ihnen wirklich geholfen hätte, denn niemand in einer Geschichte weiß, dass es ihn gibt. Und selbst Dr. Wilfred mit seinem sturen newtonschen Glauben an die Kausalität würde nie und nimmer behaupten, dass zukünftige Ereignisse in der realen Welt diese Art von bereits festgelegter Faktizität aufweisen. Auch wenn er die Position und die Bewegungen aller Beteiligten gekannt und ihre Gefühle und Absichten verstanden hätte – auch wenn er selbst nicht beteiligt gewesen wäre –, hätte er zugestanden, dass gemäß dem augenblicklichen Stand der wissenschaftlichen Forschung ein früherer Zustand des Universums für die Zukunft nur eine Anzahl von Wahrscheinlichkeiten festgelegt hatte. Der Bischof des Hesperiden-Archipels, dessen öffentliche Verlautbarungen bisweilen nahelegten, dass Gott sehr detaillierte Pläne und Ziele hatte, mit denen er als Bischof wohlvertraut war, hätte zugeben müssen, dass es sich dabei nur um Wahrscheinlichkeiten handelte und nicht um festgelegte Tatbestände, da Gott gewiss das Recht und die Macht hatte, es sich in letzter Minute anders zu überlegen, so wie es auch ein kleiner Bischof wie er tun könnte.
    Dennoch mussten diese Wahrscheinlichkeiten, wie sie sowohl Dr. Wilfred als auch der Bischof auf unterschiedliche Weise sahen, selbst reale Entitäten gewesen sein. Sie existierten bereits in der kurzen Zeitspanne zwischen dem Moment, in dem Oliver aufstand, und dem, in dem er zu sprechen begann und das Ereignis einfach Bestandteil der bewährten Einrichtung des Universums wurde. Sie
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