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Wie es uns gefällt

Wie es uns gefällt

Titel: Wie es uns gefällt
Autoren: Peter Ackroyd
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Tiefgang. Onions gehört dazu.» Er ärgerte sich über sein unloyales Verhalten gegenüber seinem Freund und wechselte rasch das Thema. «Warum sind Sonntage so schrecklich? Ich habe frei, und trotzdem ist alles langweilig und trostlos. Das bringt mich um meine Lebenslust. Nirgendwo kann man in Ruhe nachdenken.» Er sprang vom Sessel auf und stellte sich neben seine Schwester in den Erker. «Erst in der Dämmerung erwacht dieser Tag zum Leben. Doch dann ist es zu spät. Ich werde mich jetzt in mein Zimmer begeben und mit Lawrence Sterne beschäftigen.»
    An dieses Verhalten war sie gewöhnt. Wie sagte sie insgeheim? «Von Charles verlassen zu werden» sei ein «zusammengesetztes Verb», das ein komplexes Gefühl aus Verlust, Enttäuschung und Erwartung widerspiegle. Trotzdem fühlte sie sich nicht einsam.
    Sie war selten allein zu Hause. Und da waren ihre Eltern auch schon. Als sie hörte, wie ihre Mutter den Schlüssel ins Schloss steckte, richtete sie sich instinktiv gerader auf, als wollte sie sich gegen eine Gefahr wappnen. Während Mr Lamb seine Stiefel auf der Strohmatte neben der Türe abstreifte, bat Mrs Lamb ihr Dienstmädchen Tizzy, die Blätter wegzufegen. Jetzt würde sich Charles noch tiefer in seinen Sessel vergraben, um sich durch die Lektüre von Sterne gegen die Geräusche des Hauses abzuschirmen. Das wusste Mary ganz genau. Sie drehte sich zum Fenster, als ihre Eltern den Raum betraten, und stellte sich darauf ein, wieder ganz Tochter zu sein.
    «Mary, setz dich zu deinem armen Vater, während ich einen Eierpunsch zubereite. Vielleicht hat er sich erkältet.» Mr Lamb schüttelte lachend den Kopf. «Was sagten Sie soeben, Mrs Lamb?» Sein Blick wanderte zu den Füßen seiner Frau hinunter. «Sie haben ganz recht. Ich habe noch meine Holzschuhe an. Ich bin sicher, Ihnen entgeht auch gar nichts.»
    «Zieh sie aus», sagte er. Dann lachte er wieder.
     
     
    Mary Lamb hatte den langsamen Verfall ihres Vaters interessiert verfolgt. Früher hatte er als Geschäftsmann alle erdenklichen Angelegenheiten schnell und effizient erledigt und geordnet, als ginge es in den Kampf gegen einen unsichtbaren Feind. Jeden Abend war er mit der Aura eines Siegers ins Haus an der Laystall Street heimgekehrt. Doch eines Tages waren seine Augen vor Schreck geweitet gewesen. «Ich weiß nicht, wo ich gewesen bin», war alles, was er gesagt hatte. Kaum merklich begann er zu entgleiten. Er, der Marys Vater gewesen war, wurde erst ihr Freund und zu guter Letzt ihr Kind.
    Charles Lamb schien den Zustand seines Vaters nicht zu beachten; er mied den alten Mann nach Möglichkeit und äußerte sich mit keinem Wort zu dessen stetigem Verfall. Wenn Mary das Gespräch auf «Papa» brachte, hörte er ihr geduldig, aber wortlos zu. Er konnte nicht darüber sprechen.
    Mr Lamb rieb sich in freudiger Erwartung des Eierpunsches begeistert die Hände.
    Kaum hatte ihre Mutter den Raum verlassen, setzte sich Mary neben ihn auf die ausgeblichene grüne Ottomane. «Papa, hast du beim Gottesdienst mitgesungen?»
    «Der Pastor hat sich geirrt.»
    «Wieso?»
    «In Worcestershire gibt es keine Kaninchen.»
    «Wirklich nicht?»
    «Nein, und auch keine Milchbrötchen.»
    Mrs Lamb glaubte unerschütterlich daran, dass dem Gefasel ihres Mannes ein Hauch Weisheit innewohnte, aber Mary wusste es besser. Und doch interessierte sie sich jetzt mehr für ihn als früher. Dieser unentwegte Strom an merkwürdigen, aus dem Zusammenhang gerissenen Satzteilen faszinierte sie. Es war, als führte die Sprache ein Selbstgespräch.
    «Papa, ist dir kalt?»
    «Nur ein Irrtum in den Geschäftsbüchern.»
    «Meinst du?»
    «Ein Tag, den man sich im Kalender rot anstreichen muss.»
    Mrs Lamb kam mit einer Schale Eierpunsch zurück. «Mary, meine Liebe, du hältst ja deinen Vater davon ab, sich an den Kamin zu setzen.» Sie war immer misstrauisch, als könnte ihr irgendetwas auf der Welt entgleiten. «Wo ist dein Bruder?»
    «Er liest.»
    «Was für eine Überraschung! Trinkt vorsichtig, Mr Lamb! Mary, hilf deinem Vater.»
    Mary mochte ihre Mutter nicht sonderlich. Sie sah in ihr eine neugierige Frau, die ihre Nase in Angelegenheiten steckte, die sie nichts angingen. Die Wachsamkeit ihrer Mutter wirkte auf sie irgendwie feindselig. Mary wäre nie auf die Idee gekommen, dass sich dahinter Furcht verbergen könnte.
    «Nicht schlürfen, Mr Lamb, sonst bekleckern Sie sich.»
    Vorsichtig nahm Mary ihrem Vater die Schale ab und begann, ihn mit dem Porzellanlöffel zu füttern.
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