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Wie es uns gefällt

Wie es uns gefällt

Titel: Wie es uns gefällt
Autoren: Peter Ackroyd
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eingeatmet, in den sich leichter Schweißgeruch mischte. Schweißperlen hatten Charles auf der Stirn und im Nacken gestanden. Mary genoss dieses Gefühl körperlicher Nähe, die ihr in den letzten Jahren verloren gegangen war. Charles hatte während des Studiums am Christ’s Hospital auch dort gewohnt. Seine Abreise zu Semesterbeginn rief in ihr regelmäßig eine höchst befremdliche Mischung aus Ärger und Einsamkeit hervor. Er brach in eine Welt auf, wo ihn Kameradschaft und die Vermittlung von Wissen erwarteten, während sie in der Gesellschaft ihrer Mutter und der von Tizzy zurückblieb. In dieser Zeit begann sie, selbständig zu studieren, nachdem sie ihre Arbeiten im Haushalt verrichtet hatte. Man hatte ihr in einem kleinen Hinterzimmer im Dachgeschoss ein Schlafgemach eingerichtet, wo sie ihre von Charles geliehenen Schulbücher aufbewahrte. Darunter eine lateinische Grammatik, ein Griechischlexikon, Voltaires Philosophisches Wörterbuch und eine Ausgabe des Don Quijote. Sie versuchte, mit ihrem Bruder Schritt zu halten, aber oft entdeckte sie nach seiner Rückkehr, dass sie ihn überholt hatte. Er hatte noch nicht einmal die Reden Ciceros bewältigt, da las und übersetzte sie bereits das vierte Buch der Äneis, das von der Liebe zwischen Dido und Äneas handelte. «At regina gravi iamdudum saucia cura», hatte sie zu ihm gesagt. Daraufhin hatte er nur schallend gelacht. «Was meinst du denn damit, Schwesterherz?»
    «Das ist Vergil, Charles. Ein Zitat aus Didos Klage.» Wieder lachte er und zauste ihre Haare. Sie versuchte zu lächeln, doch dann senkte sie den Kopf. Sie fühlte sich eitel und töricht.
    Aber es gab auch andere Gelegenheiten, bei denen sie abends gemeinsam studierten. Dann brüteten Bruder und Schwester mit leuchtenden Augen über einem Buch und spürten denselben Sätzen nach. Sie unterhielten sich über Roderick Random und Peregrine Pickle, als handelte es sich um lebendige Personen, und dachten sich für Lemuel Gulliver oder Robinson Crusoe neue Szenen und Abenteuer aus. In ihrer Phantasie waren sie selbst auf Crusoes Insel und versteckten sich vor den räuberischen Kannibalen im dichten Gebüsch. Und anschließend widmeten sie sich erneut den Feinheiten der griechischen Syntax. Sie sei eine Griechin geworden, meinte er zu ihr.
    «Heftiges Getöse?» In seiner Frage schwang verletzte Unschuld mit. Er wusste wirklich nicht, was sie damit meinte.
     
     
    Er war mit voller Wucht auf sein Bett gefallen und sofort tief und fest eingeschlafen, als wäre ihm endlich die Flucht gelungen.
    Mary hatte seine Stiefel aufgeschnürt und wollte ihm den rechten ausziehen, als sie ausrutschte, rücklings gegen seinen Sekretär fiel und dabei einen Kerzenleuchter und ein Messingschälchen umstieß, in dem ihr Bruder abgebrannte Schwefelhölzchen aufbewahrte. Genau dieses Getöse hatte Mrs Lamb gehört, die auf der anderen Seite des Flurs hellwach in ihrem Bett lag. Charles war davon nicht aufgewacht. Als wieder Stille eingekehrt war, hatte Mary den Kerzenständer und die Schale vorsichtig zurückgestellt, ihrem Bruder behutsam die Stiefel ausgezogen und sich dann neben ihn gelegt. Sie hatte ihre Arme um ihn geschlungen und ihren Kopf so sachte auf seine Brust gelegt, dass er sich im Takt seines Atems hob und senkte. Wenige Minuten später war sie in ihr eigenes Kämmerchen hinaufgeschlichen.
     
     
    Nach dem Ende des Sonntagsmahls war es üblich, dass Charles seinen Eltern und seiner Schwester etwas aus der Bibel vorlas. Das machte ihm nichts aus, im Gegenteil, er bewunderte die meisterhafte Sprache der King-James-Bibel, deren ausgewogene Satzperioden, deren Sprachmelodie und Wohlklang ihn schon als Kind wie im Sturm mitgerissen hatten. «Ich sah einen Traum und erschrak, und die Gedanken, die ich auf meinem Bette hatte, und das Gesicht, so ich gesehen hatte, betrübten mich.» Man hatte sich im Salon versammelt, wo Mary den Sonnenschein genossen hatte. Charles saß mit dem Prachtband in der Hand hinter einem kleinen Klapptisch. «Papa, das ist die Geschichte von Nebukadnezar.»
    «Tatsächlich? Woher wusste er denn, wann er weinen musste?»
    «Als Gott ihn tadelte, Mr Lamb.» Mrs Lamb war sehr bestimmt. «Denn alles Fleisch, es ist wie Gras.»
    Instinktiv fuhr Marys Hand zum Gesicht, während Charles weiter aus dem Buch Daniel zitierte: «Und ich befahl, daß alle Weisen zu Babel vor mich hereingebracht würden, daß sie mir sagten, was der Traum bedeutete.»

2
     
     
     
    Am nächsten Morgen verließ
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