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Wie es uns gefällt

Wie es uns gefällt

Titel: Wie es uns gefällt
Autoren: Peter Ackroyd
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    «Pferdegeruch ist mir zuwider.» Mary Lamb trat ans Fenster und nestelte sanft am ausgeblichenen Spitzensaum ihres Kleides herum. Obwohl es längst aus der Mode gekommen war, trug sie es ungerührt, als würde sie der Wahl ihrer Kleidung keine Bedeutung beimessen. «Die ganze Stadt ist eine einzige Kloake.» Außer ihr war niemand im Salon. Sie reckte ihr Gesicht nach oben, der Sonne entgegen. Seit einer Erkrankung vor sechs Jahren war ihre Haut von Blatternnarben entstellt. Deshalb hielt sie ihr Gesicht ans Licht und malte sich aus, es sei der mit Kratern übersäte Mond.
    «Ich habe es gefunden, Schwesterherz. Es hatte sich in Ende gut, alles gut versteckt.» Charles Lamb platzte mit einem schmalen grünen Bändchen in der Hand ins Zimmer.
    Lächelnd drehte sie sich um. Sie ließ sich von der Begeisterung ihres Bruders mitreißen und wieder auf die Erde zurückholen. «Ist es wirklich so?»
    «Was denn, Schwesterherz?»
    «Dass am Ende alles gut wird?»
    «Das möchte ich doch sehr hoffen.» Die obersten Knöpfe seines Leinenhemdes standen offen, sein Halstuch war nur locker gebunden. «Darf ich dir vorlesen?» Er ließ sich in einen Sessel fallen und schlug sofort die Beine übereinander. An diese raschen, knappen Bewegungen hatte sich seine Schwester längst gewöhnt. Er hielt das Bändchen mit ausgestreckten Armen von sich und rezitierte eine Stelle: « ‹Wunder gehören angeblich der Vergangenheit an; heutzutage haben wir unsere Herren Philosophen, die uns übernatürliche und unerklärliche Dinge modern und vertraut erscheinen lassen. Folglich verniedlichen wir das Entsetzen, indem wir uns hinter scheinbarem Wissen verschanzen, obgleich wir uns der unbekannten Furcht überantworten sollten.› So schreibt Lafew an Parolles. Das entspricht exakt dem Hobbes’schen Gedankengebäude.»
    Meistens las Mary dieselben Bücher wie ihr Bruder, wenn auch langsamer. Sie ging mehr in ihnen auf. Beim Lesen saß sie an jenem Fenster, wo das Licht sie noch vor wenigen Augenblicken berührt hatte, und hing den durch die Lektüre wachgerufenen Empfindungen nach. Wie hatte sie zu ihrem Bruder gesagt? In diesem Moment fühlte sie sich als Teil des Weltengeistes. Sie las, um bei den Gesprächen mit Charles mithalten zu können. Sie waren der große Trost ihres Lebens geworden. Immer wenn er nach seiner Arbeit in der Zentrale der Ostindien-Kompanie abends nüchtern heimkehrte, unterhielten sie sich ausführlich. Sie vertrauten sich einander an und sahen im Gesicht des anderen die gleiche Seele aufleuchten.
    «Wie hieß das nochmals – ‹scheinbares Wissen›? Charles, du hast eine so klare Aussprache. Ich wäre froh, wenn ich deine Begabung besäße.» Sie bewunderte ihren Bruder im gleichen Ausmaß, wie sie sich selbst gering schätzte.
    «Worte, Worte, Worte.»
    «Würde so etwas auch auf uns bekannte Menschen zutreffen?», wollte sie von ihm wissen.
    «Was denn, Schwesterherz?»
    «Scheinbares Wissen und unbekannte Furcht?»
    «Das musst du mir näher erklären.»
    «Soll ich mich, was Papa betrifft, einer unbekannten Furcht überantworten, obwohl ich ihn scheinbar kenne?»
    An diesem Sonntagmorgen waren ihre Eltern gerade auf dem Heimweg von der Dissenter-Kapelle an der Ecke Lincoln’s Inn Lane und Spanish Street. Mary beobachtete, wie ihre Mutter und ihr Vater langsam die Gässchen überquerten. Sie waren höchstens noch hundert Meter vom Haus entfernt. Mr Lamb litt unter beginnender Senilität, aber Mrs Lamb stützte ihn mit ihrem kräftigen rechten Arm.
    «Und dann wäre da noch Selwyn Onions», fuhr Mary fort. Dieser arbeitete wie Charles als Kontorist in der Leadenhall Street. «Anscheinend kenne ich seine Streiche und Scherze. Soll ich mich, in Anbetracht seiner boshaften Geisteshaltung, dennoch einer unbekannten Furcht überantworten?»
    «Onions? Der ist kreuzbrav.»
    «Das wage ich zu bezweifeln.»
    «Schwesterherz, du schaust zu sehr in die Tiefe.»
    Es war ein später Herbsttag, die untergehende Sonne malte rote Flecken auf die Ziegelmauern der gegenüberliegenden Häuser. Auf der Straße lagen Orangenschalen, Zeitungsfetzen und dürres Laub herum. An der Straßenecke umklammerte eine alte Frau mit einem weiten Schultertuch den Pumpenschwengel.
    «Was heißt hier ‹zu sehr in die Tiefe›?» Das leichtfertige Gerede ihres Bruders überraschte sie. So etwas war gefühllos. Sie vertraute doch auf sein einfühlsames Wesen. Es gab ihrem Leben einen Sinn.
    «Mary, es gibt nun mal Personen ohne
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