Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wie es uns gefällt

Wie es uns gefällt

Titel: Wie es uns gefällt
Autoren: Peter Ackroyd
Vom Netzwerk:
nicht spürbar auf ihren Appetit aus. Sie sprach das Tischgebet, in das ihre Kinder einfielen, und legte dann die Koteletts vor.
    «Warum muss man vor dem Essen beten?», hatte Charles einmal seine Schwester gefragt. «Kann man nicht in aller Stille dafür dankbar sein? Warum spricht man kein Gebet, bevor man zu einem Spaziergang bei Mondschein aufbricht? Warum kein Gebet vor der Lektüre von Spenser? Vor einem Treffen mit Freunden?» Seit Kindertagen hegte Mary eine Abneigung gegen formelle Familienmahlzeiten. Das Herumreichen der Teller, das Austeilen des Essens, das Klirren des Bestecks rief in ihr eine Art Mattheit hervor. Bei solchen Anlässen konnte nur Charles sie wieder aufheitern, der jetzt sagte: «Ich frage mich, wer der größte Narr auf der Welt gewesen ist. Will Somers? Landrichter Schal?»
    «Also wirklich, Charles, du vergisst dich.» Mrs Lambs Blick war auf ihren Mann gerichtet, auch wenn er offensichtlich nicht direkt gemeint gewesen war.
    Mary lachte. Plötzlich blieb ihr ein Stück Kartoffel im Hals stecken. Rasch sprang sie auf und schnappte nach Luft. Auch ihre Mutter erhob sich vom Tisch, aber Mary wehrte heftig ab. Sie wollte auf keinen Fall von ihr berührt werden. Sie hustete die Kartoffel in die Hand und seufzte.
    «Wer wird meine süßen Orangen kaufen?», fragte ihr Vater.
    Mrs Lamb nahm wieder Platz und aß weiter. «Charles, du bist sehr spät heimgekommen.»
    «Ich habe mit Freunden diniert, Mama.»
    «Nennt man das jetzt so?»
     
     
    Charles war völlig betrunken in die Laystall Street zurückgekehrt. Wie immer hatte Mary auf ihn gewartet. Kaum hatte sie gehört, wie er vergeblich versuchte, den Schlüssel ins Schloss zu stecken, hatte sie die Tür geöffnet und ihn aufgefangen, als er ihr entgegentaumelte. Jede Woche trank er an zwei oder drei Abenden zu viel. Anderntags entschuldigte er sich mit den Worten, er habe «dem Müßiggang gefrönt». Mary rügte ihn nie. Sie meinte zu verstehen, weshalb er trank, und hegte sogar Sympathie dafür. Wenn sie den Mut oder die Gelegenheit gehabt hätte, hätte sie sich jeden Tag betrunken. Lebendig begraben zu sein – war das nicht genug Anlass dazu? Jedenfalls war Charles ein Schriftsteller, und Schriftsteller waren für ihren Hang zum Zechen bekannt. Wie war das bei Sterne oder Smollett gewesen? Nein, laut oder streitsüchtig war ihr Bruder nie; er blieb, was er war, ein netter und umgänglicher Mensch. Allerdings konnte er in diesem Zustand weder stehen noch einigermaßen deutlich sprechen. «Die Sache will’s, die Sache will’s», hatte er gestern Nacht zu Mary gesagt. «Nach dir.»
    Er hatte mit zwei Kollegen von der Ostindien-Kompanie im Salutation and Cat am Hand Court, in der Nähe von Lincoln’s Inn Fields, Süßwein und Burton-Bier getrunken. Tom Coates und Benjamin Milton waren etwas klein geraten, sahen adrett aus und hatten dunkle Haare. Beide Männer sprachen schnell und konnten sich über die Bemerkungen des anderen buchstäblich ausschütten. Da Charles ein wenigjünger als Coates war und ein bisschen älter als Milton, empfand er sich als «neutrales Medium, durch das man galvanische Kräfte leiten kann». So hatte er es ihnen gegenüber formuliert. Coates sprach über Spinoza und Schiller, über biblische Eingebung und romantische Phantasie; Milton ließ sich über Geologie und die Erdzeitalter aus, über Fossile und tote Meere. Im Zustand fortgeschrittener Trunkenheit wähnte sich Lamb im Frühstadium der Erde. Was könnte man in einer Gesellschaft, die derart große Geister barg, nicht alles erreichen?
     
     
    «Habe ich dich gestern Nacht geweckt, Mama?»
    «Ich war bereits wach. Mr Lamb war unruhig.» Ihr Ehemann versuchte regelmäßig, sein Wasser zum Schlafzimmerfenster hinaus abzuschlagen, unter dem die Straße vorbeiführte. Diese Gewohnheit stieß bei Mrs Lamb auf heftigen Widerstand.
    «Charles, du bist ganz leise gewesen.» Mary hatte sich nach ihrem Hustenanfall inzwischen wieder beruhigt. «Du bist schnurstracks zu Bett gegangen.»
    «Ich stehe auf ewig in deiner Schuld, Mary. Über einer solchen Schwester erstrahlt der Himmel.»
    «Ich habe deutlich ein Geräusch aus deinem Zimmer vernommen.» Mrs Lamb ließ sich von dieser zur Schau gestellten geschwisterlichen Zuneigung nicht beeindrucken. «Heftiges Getöse.»
    In Wahrheit hatte Mary ihrem Bruder beim Treppensteigen geholfen und ihn in sein Schlafzimmer bugsiert. Zärtlich hatte sie seinen Arm gehalten und genüsslich seinen weingetränkten Atem
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher