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Wie ein boser Traum

Wie ein boser Traum

Titel: Wie ein boser Traum
Autoren: Webb Debra
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etwas, wonach er sich beinahe mehr sehnte als nach dem nächsten Atemzug: auf die Leute, die ihm sein Leben geraubt hatten.
     
     
    Medizinisches Forschungszentrum Samford
Birmingham, Alabama
9.15 Uhr
     
    Wir haben ihre Bedenken ordnungsgemäß erwogen, aber die Entscheidung ist getroffen und ausgeführt.
     
    Emily Wallace setzte sich an den Schreibtisch, ihre Finger umkrampften die Stuhllehnen, als diese Worte in ihrem Inneren widerhallten.
    Wieso hatte der Bewährungsausschuss das zugelassen?
    Die hatten einen verurteilten Mörder nach nur zehn Jahren – der Hälfte der Strafe – freigelassen.

    Das Atmen fiel ihr schwer. Ärztliche Akten und Berichte, die abgelegt werden mussten, lagen bergeweise auf ihrem unordentlichen Schreibtisch und buhlten erfolglos um ihre Aufmerksamkeit. In der vergangenen Woche hatte sie sich nicht auf ihre Arbeit konzentrieren können. Hatte an nichts anderes denken können als an das Ergebnis der Anhörung.
    Und jetzt war die Entscheidung gefallen.
    Die düsteren Mienen der Ausschussmitglieder kamen ihr in den Sinn, als sie die Gründe für Clint Austins fortgesetzte Inhaftierung dargelegt hatte. Nicht der Hauch einer Gefühlsregung war den starren Gesichtern anzusehen, als Heathers Vater das gleiche Plädoyer gehalten hatte. Es war ihnen egal. Es war ja nicht ihre Tochter oder Freundin gestorben. Ein weibliches Ausschussmitglied hatte schließlich sogar behauptet, sie habe die Verhandlungsniederschrift gelesen und festgestellt, dass die Beweise für eine Verurteilung gar nicht ausgereicht hätten. Und hatte auch noch Szenarien entwickelt, die Clint Austins Unschuld andeuteten, jedes davon ein Schlag ins Gesicht all derer, die Heather Baker geliebt hatten.
    Erst kurz zuvor hatte das Büro des Bezirksstaatsanwalts angerufen und Emilys schlimmste Befürchtungen bestätigt. Anschließend hatte sie wie erstarrt dagesessen.
    Jetzt war es offiziell.
    Er war frei.
    Die Erinnerung an ihre eigenen Schreie erfüllte sie, schloss alle anderen Gedanken aus. Sie ermahnte sich, Ruhe zu bewahren, aber sie schaffte es einfach nicht. Wie ein defektes Neonlicht flackerten Bilder aus jener Nacht in ihr auf. Ihr altes Zimmer im Haus an der Ivy Lane, mit
den Retro-Sechziger-Streifen und den Postern mit ihren Rock-Idolen an den Wänden. Die Batik-Decke auf ihrem Bett … und Heather, die dort in einer Blutlache lag. Klaffende Wunden verunstalteten ihr schönes Gesicht, ihre schlanken Arme.
    Er war dort gewesen. Seine Hände an Heathers Hals, Blut überall am Körper. Emily hatte versucht, Clint Austin wegzureißen, aber er war zu kräftig. Jenseits des Horrors in ihrem Zimmer hatte sie in der Ferne die Sirenen gehört … so verdammt weit weg. Schließlich hatte sie es geschafft, Clint Austin zur Seite zu stoßen, und dann hatte sie die andere Wunde am Hals ihrer Freundin entdeckt. Alle Versuche, das Blut, das aus dieser tödlichen Wunde quoll, zu stillen, waren gescheitert – es war ihr immer weiter einfach durch die Finger gesickert.
    Und dann waren die Polizisten überall gewesen, die Sanitäter hatten Emily beiseitegedrängt. Alles war so schnell passiert, und doch zu spät, viel zu spät.
    Heather war tot.
    Das Zimmer kippte. Emily wurde speiübel. Ganz vorsichtig stand sie auf, verharrte auf zittrigen Beinen und ging dann steif, langsam zur Damentoilette.
    Zum Glück waren alle drei Kabinen leer. Ihr Zusammenbruch würde nur Fragen provozieren. Fragen, die sie einfach nicht ertragen könnte. Sie ging zur ersten Kabine, schloss die Tür und hockte sich sofort auf die Knie. Sie erbrach sich, bis ihr Magen leer war, wischte sich dann mit dem Handrücken den Mund und brach auf dem kalten Fliesenboden zusammen.
    Sie war sich nicht sicher, wie viel Zeit vergangen war; aber sie weinte, bis keine Tränen mehr kamen, bis der Schmerz sich wie ein schraubstockfestes Band um ihren

    Schädel gelegt hatte. Jeder Atemzug bedeutete schiere Anstrengung, während das Gewicht ihrer Schuld gegen ihre Brust drückte.
    Sie hatte versagt.
    Ihre Freundin war tot. Emily hatte sie vor all den Jahren nicht retten können, und jetzt fehlte ihr die Stärke, dafür zu sorgen, dass ihr Mörder hinter Gittern blieb.
    Emily hatte ihre Freundin zweimal im Stich gelassen.
    Der zehn Jahre währende Zorn wütete so jählings in Emily, dass sie zusammenschrak. Im Nu löschte er die schwächeren Gefühle aus. Sie setzte sich auf und lehnte den pochenden Kopf an die Kabinenwand.
    Er war draußen.
    Warum zum Teufel saß sie dann hier
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