Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wie ein boser Traum

Wie ein boser Traum

Titel: Wie ein boser Traum
Autoren: Webb Debra
Vom Netzwerk:
gewesen war, hatte er ja nicht viel reden müssen.
    Ray bog zum letzten Mal ab, in die Straße, in der Clints Elternhaus stand. Das Haus, die verwitterte Scheune und das kleine Stück Land, das seiner Mutter gehört hatten, lagen rund acht Kilometer außerhalb von Pine Bluff, umgeben von nichts als Wald und Bergen und staubigen Feldwegen, die nirgendwo endeten.
    »Du hast deine Schuld an die Gesellschaft bezahlt«, fügte Ray hinzu, so als hätte er nicht schon genug gequasselt. »Fang ganz von vorne an, Clint. Schau nicht zurück.« Er blickte hinüber zu Clint.
    Der naive Chief hatte ja keine Ahnung. Reue war etwas, was Clint sich abgewöhnt hatte, ebenso eine Reihe ganz anderer Gefühle. Als wollte es ihm widersprechen, begann sein Herz laut zu pochen. Er musste sich enorm konzentrieren, damit es ruhiger schlug. Das war
das Entscheidende, wenn man im Gefängnis saß: Nur die eigenen Gefühle konnte man dort kontrollieren. Meisterschaft in dieser Art Selbstbeherrschung zu erlangen, das war seine einzige Fluchtmöglichkeit gewesen.
    Jetzt aber war er zu Hause – und mit Problemen konfrontiert, die er mit den üblichen Techniken nicht würde bewältigen können. Veränderungen waren notwendig, damit ihm niemand zu nahe kam.
    Sein Blick fiel auf das Haus, das er sein Zuhause genannt hatte, ehe sein Leben zum Teufel gegangen war. Die alte Farbe war abgeblättert, so dass das kleine Farmhaus in gespenstischem Silberweiß dastand. Der Rasen war frisch gemäht, wahrscheinlich von Ray. Selbst die Pflanzen, die Clints Mutter Jahr um Jahr gezogen hatte, blühten. Clints Brust weitete sich.
    Er war wieder da.
    »Der elektrische Strom ist freigeschaltet«, sagte Ray. »Der Brunnen funktioniert prima. Die Damen von der Kirche sind rübergekommen und haben ein wenig saubergemacht. Ich habe den Kühlschrank aufgefüllt, damit du ein paar Tage nicht einkaufen musst.« Er legte den Ellbogen ins offene Fenster an der Fahrerseite. »Du musst in die Stadt fahren und dich mit Lee Brady treffen, deinem Bewährungshelfer. Am besten, du erledigst das noch heute. Außerdem solltest du dir Zeit lassen, bevor du dich irgendwelchen unnötigen … Situationen aussetzt.« Er zuckte die Schultern. »Ich weiß, eine Zeit lang wird’s schwierig für dich sein.«
    Situationen. Ray meinte, ehe er sich häufiger als nötig in der Stadt blicken ließ. Bevor er auf die Leute traf, die ihn eines Großteils seines Lebens beraubt hatten, wegen eines Verbrechens, das er nicht begangen hatte.

    Clint wandte den Blick vom Haus ab und betrachtete den Mann hinterm Steuer. Wut kochte in ihm hoch. »Ich brauche weder dein Mitleid noch deinen Rat, Ray.« Er wusste, er hätte einfach Danke sagen sollen, aber er hatte es nicht getan.
    Ray stieß wieder einen seiner tiefen Seufzer aus. »Mit dieser Einstellung wirst du nicht weiterkommen«, gab er zurück. »Die meisten Einwohner wollen dich nicht wieder in der Stadt haben. Aber mit etwas Zeit und Geduld wird schon Gras über die Sache wachsen.«
    Clint blickte kurz auf das Haus, in das er seit zehn Jahren keinen Fuß mehr gesetzt hatte. »Es interessiert mich einen Dreck, was die Leute denken.«
    »Das mag ja sein«, entgegnete Ray, »aber du wirst Scham empfinden, trotz deiner ganzen Wut.«
    Clint erinnerte sich nicht, wann er das letzte Mal über die Äußerung eines anderen gelacht hatte, aber jetzt musste er es einfach. »Und genau da täuschst du dich, Ray. Die Leute hier können machen, was sie wollen, aber es wird mir völlig egal sein.«
    Clint öffnete die Tür des Pick-ups; Ray legte ihm die Hand auf den Arm; Clint zögerte, auszusteigen, und fühlte wieder diese altbekannte innere Anspannung. Er ließ sich nicht gern anfassen, aber diesmal wollte er es durchgehen lassen.
    »Du hast jedes Recht der Welt, verbittert zu sein, Clint. Aber was nützt dir deine Freiheit, wenn du gegen etwas kämpfst, was sich nicht ändern lässt?«
    Clint gab ihm darauf keine Antwort. Er stieg aus, drehte sich nicht um und verabschiedete sich nicht. Auf Rays gut gemeinte Ratschläge konnte er verzichten. Er brauchte nichts und niemanden. Und würde seine Kräfte
nicht damit vergeuden, so zu tun, als wäre es anders. Er hatte eigene Ziele, und nichts und niemand würde ihn davon abhalten.
    Er ging die Treppe hinauf und über die Vorderveranda zur Tür; mit zitternder Hand öffnete er sie. Kies knirschte; Ray fuhr davon. Die Stille senkte sich über Clint herab, dennoch zögerte er, das Haus zu betreten, wartete auf die
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher