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Ein Winter mit Baudelaire

Ein Winter mit Baudelaire

Titel: Ein Winter mit Baudelaire
Autoren: Harold Cobert
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Es war einmal
    Auf der Straße ist es menschenleer. Dabei ist die Luft noch mild. Die Abende und Nächte bleiben frisch, aber die laue Lichtfülle des Tages klingt immer deutlicher in ihnen nach. Es ist ein Abend im Mai, Anfang Mai, eine zarte Dämmerung.
    Der Sonntag neigt sich dem Ende zu. Die Schatten werden länger, sie strecken und räkeln sich in der Melancholie eines Wochenendes, das diesem Vorort mit seinen kleinen Einfamilienhäusern am Stadtrand von Paris den Rücken kehrt.
    Aus den halb geöffneten Fenstern dringen Geräusche von Existenzen, die sich täglich kreuzen wie gebrochene Linien, ohne einander über nachbarschaftliche Höflichkeit oder städtische Gleichgültigkeit hinaus jemals wirklich zu begegnen. In wirren Spiralen entweichen sie, wirbeln einen Moment über dem Asphalt und steigen zum Himmel hinauf, um sich dort im dumpfen, erstickten Dröhnen der Stadt zu verlieren. Gesprächsfetzen überlagern die Stimme der Sprecherin der Acht-Uhr-Nachrichten. Gegenüber schleudert eine Waschmaschine brummend die Wäsche der vergangenen Woche. Ein Stück weiter rennen Kinder lachend durchs Wohnzimmer, während die Mutter, über den Küchentischgebeugt, Alleinsein und Geldnot in einem Glas Wodka ertränkt. Nebenan liebt sich ein frisch verheiratetes Paar. Ein Haus weiter betrügt eine Frau ihren Ehemann, der auf Dienstreise ist. Weiter oben kocht ein Paar, ein anderes streitet sich wegen einer versalzenen Suppe. Ein weiteres isst zu zweit zu Abend, jeder in seine Gedanken versunken, verbunden nur noch in der gemeinsamen Sorge um offene Haushaltsrechnungen.
    All diese leise rauschenden Existenzen verschmelzen zu einem dumpfen, wirren Lärm, der nichts als Schweigen ist. In diesem Geflecht aus Geräuschen hört niemand die Schreie einer sich heftig streitenden Familie oder das Ächzen des Gürtels, mit dem ein Mann dem Sonntagsvergnügen einer kleinen ehelichen Züchtigung frönt, oder die Stimme von Philippe, der auf der Bettkante seiner Tochter zärtlich »Es war einmal …« flüstert.

Der Sternenprinz und die Prinzessin der Morgenröte
    Claire hat die Augen geschlossen. Ihr Atem geht gleichmäßig und ruhig. Philippe stützt die Hände auf die Knie, steht vorsichtig auf und geht leise auf die Zimmertür zu.
    »Papa?«
    Philippe dreht sich um, kehrt ans Bett seiner Tochter zurück, streicht ihr sanft übers Haar.
    »Schlaf, meine kleine Prinzessin …«
    »Noch eine Geschichte …«
    »Es ist spät, du hast morgen Schule …«
    »Aber … ich bin schon sechseinhalb!«
    »Eben drum, ein großes Mädchen wie du braucht Kraft, damit es gut lernen kann …«
    »Bitte, Papa …«
    Philippe wirft einen Blick zur halb geöffneten Tür, seufzt, setzt sich wieder aufs Bett.
    »Also gut, aber nur eine, und zwar eine kurze, sonst schimpft die Mama noch mit mir!«
    Mit unterdrücktem Lachen halten sich beide den Zeigefinger vor den Mund und machen »Pst!«.
    »Der Sternenprinz und die Prinzessin der Morgenröte!«
    »Noch mal?«
    »Ja!«
    »Aber die habe ich dir doch eben schon erzählt!«
    »Papa …«
    Philippe sieht seiner Tochter forschend ins Gesicht, in ihre vor Ungeduld glänzenden Augen, und muss lächeln. Kinder lieben es, wenn man ihnen immer wieder die gleiche Geschichte erzählt. Der abgesteckte, vertraute Weg umfängt, umhüllt sie wie eine dicke, beruhigende Daunendecke.
    »Na gut …«
    Claire nimmt die Hand ihres Vaters.
    »Papa?«
    »Ja, Prinzessin?«
    »Wirst du uns auch nicht vergessen, wenn du weg bist?«
    »Was für ein Gedanke! Niemals! Außerdem bin ich ja nur für ein paar Wochen weg …«
    »Wie viele?«
    Ein angedeutetes Lächeln, dem jede Überzeugung fehlt, huscht über Philippes Gesicht.
    »Nicht lang …«
    Claire macht einen Schmollmund.
    »Ich rufe dich jeden Abend an, um dir eine Geschichte zu erzählen.«
    Die Augen seiner Tochter leuchten.
    »Versprochen?«
    »Versprochen.«
    Claire kuschelt sich tiefer unter die Decke und schließt die Augen. Philippe sieht sie durchdringend an, dann beginnt er mit dem Märchen, das ihm seine Großmutter oft erzählt hat, als er so alt war wie seine Tochter jetzt.
    »Vor langer, langer Zeit, so will es eine uralte Legende, gab es die Sterne noch nicht. Nachts war der Himmel schwarz wie Tinte. Die Nacht war das Reich der Götter undbösen Geister und für die Menschen tabu. Weil zwischen den Mächten des Himmels und der Hölle ein heftiger Krieg tobte, traute sich nach Einbruch der Dunkelheit niemand mehr aus dem Haus. Niemand, bis auf einen jungen
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