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Ein Winter mit Baudelaire

Ein Winter mit Baudelaire

Titel: Ein Winter mit Baudelaire
Autoren: Harold Cobert
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schweigend an ihrer Zigarette.
    »Sag schon, ist er derjenige?«
    »Philippe, ich bin müde. Du machst mich müde.«
    Sie setzt sich.
    »Deine Schlüssel.«
    Philippe starrt sekundenlang auf die Hand, die sie ihm entgegenstreckt, dann legt er den Schlüsselbund auf den Tisch.
    »Ich werde jeden Abend anrufen.«
    Als einzige Reaktion zieht Sandrine wieder an ihrer Zigarette.
    »Du kannst verlangen, dass ich eine Wohnung habe, um meine Tochter in angemessener Weise zu empfangen, aber du kannst mich nicht daran hindern, mit ihr zu telefonieren!«
    Sandrine atmet den letzten Rauch aus und zerdrückt mit einer schroffen Geste ihre Zigarette.
    »Hör zu«, versetzt sie. »Wir beschränken uns von jetzt an aufs absolute Minimum. Hallo und Tschüs, wenn du Claire anrufst. Ansonsten klärst du alles mit meinem Anwalt, okay?«
    Sie starren sich an. Philippe dreht sich wortlos um, nimmt seinen Koffer und verlässt das Haus.
    Draußen, auf der Fußmatte, bleibt er mit gesenktem Kopf stehen, den Arm nach hinten gestreckt, die Hand an die Türklinke geklammert.
    Aus den Fenstern der Nachbarhäuser dringen noch Geräusche. Wie zuvor entweichen sie in wirren Spiralen, wirbeln einen Moment über dem Asphalt und steigen zumHimmel hinauf, um sich dort im erstickten Brummen der Stadt zu verlieren.
    Philippe zündet sich eine Zigarette an und hebt den Kopf. Ziellos streift sein Blick durchs Leere, bis er sich jenseits der kleinen Einfamilienhäuser und Bäume zwischen den Hochhäusern verfängt, die den Blick zum Horizont versperren. Die ersten Sterne zerreißen schon die Dämmerung.

Städtische Randgebiete
    Er fährt. Lange. Ohne genaues Ziel. Er folgt den Windungen der Straße und den Zufällen der Abzweigungen.
    Er fährt von Vorort zu Vorort. Einer grenzt an den anderen. Was sie trennt, sind nur zwei Schilder, auf jeder Seite der Landstraße eins. Das rechte in Fahrtrichtung verkündet den Namen einer Gemeinde, während das andere auf der linken Seite durchgestrichen ist. Nur an diesen beiden Punkten wird die Grenze sichtbar. Anderswo ist sie nicht wahrnehmbar. Dasselbe diffuse Grau zieht sich über alle Gebäude, hinter deren scheinbarer Einförmigkeit das Stadtbild ein unpersönliches, verzerrtes Gesicht zeigt. Alte Häuser in welkem Stil neben Gebäuden von konturloser Modernität. Überbleibsel von Stadt, die durch Bruchstücke von Industrie- und Gewerbegebieten zersetzt sind. Es ist noch nicht die Hauptstadt, aber auch nicht ganz Provinz. Nur ein Zwischenraum ohne klare Identität.
    Er bremst, hält an einer roten Ampel. Es ist Nacht geworden. Die Straßenlaternen werfen gleichmäßige, reglose Lichtstreifen in bleichem Gelb auf die Szenerie, dazu das grelle Blinken einzelner Schilder. Die meisten Fensterläden sind geschlossen. Die Eisengitter vor den Geschäften sind heruntergelassen. Der Rathausplatz direkt gegenüber ist leer.Außer einigen Autos weit und breit keine Spur von Leben. Nur auf dem Bürgersteig taucht zwischen zwei Schattenflecken verstohlen ein Hund auf.
    Die Ampel wird grün. Er fährt los. Am Ende der kleinen Ortschaft, das zugleich den Beginn der nächsten markiert, erhebt sich eine Friedhofsmauer, der einzige greifbare, wenn auch paradoxe Beweis dafür, dass es hier wirklich Leben gibt.
    Philippe tritt aufs Gas. Es ist fast Mitternacht.

Mit angezogenen Beinen
    Gegen zwei Uhr morgens betritt er ein Hotel der Kette Formule 1 .
    »Guten Abend, haben Sie noch Zimmer frei?«
    »Tut mir leid, wir sind voll.«
    »Ah ja … Danke.«
    Eine Stunde und ein Dutzend Hotels später geht er rauchend auf dem Parkplatz einer Tankstelle hin und her. Es weht ein frischer Wind mit kräftigen, stoßartigen Böen. Er zieht den Kopf ein, verschränkt die Arme vor der Brust, und in dieser gebeugten Haltung läuft er weiter den körnigen Asphalt entlang, bis er schließlich wieder ins Auto steigt. Die Hauptstadt liegt vor ihm, jenseits der Ringautobahn. Einige der großen Gebäude, die den Blick versperren, sind mit Satellitenschüsseln gespickt, die wie Girlanden unter den Fenstern hängen und ihnen eine seltsame Ähnlichkeit mit riesigen, eckigen Weihnachtsbäumen verleihen.
    Nachdem er eine weitere halbe Stunde herumgefahren ist, schlägt er die Richtung seines Büros ein. Nach mehreren Runden durchs Stadtviertel parkt er schließlich vor dem Bistro, in dem er manchmal, wenn er morgens noch Zeit hat, einen Kaffee trinkt.
    Er steigt aus, öffnet den Kofferraum, dann seine Tascheund nimmt einen Anzug heraus, den er auf einem
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