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Wie August Petermann den Nordpol erfand

Wie August Petermann den Nordpol erfand

Titel: Wie August Petermann den Nordpol erfand
Autoren: Philipp Felsch
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das seiner Bedeutung davon getrieben war. Während eine weltweite Öffentlichkeit sich noch ihrer neuen Helden erfreute, hatte Karl Kraus das längst erkannt. »Am Nordpol war nichts weiter wertvoll, als daß er nicht erreicht wurde«, schrieb er im September 1909 in der Fackel . Das »Nichts« habe nicht nur Cook und Peary, es habe im selben Atemzug auch sich selbst desavouiert. Kurz: »Der gute Ruf des Nordpols war dahin.« Dass die Welt einem leeren Zeichen hinterher jagte, hatte Lewis Carroll schon eine Generation
früher geahnt. »What’s the good of Mercator’s North Poles and Equators, Tropics, Zones, and Meridian Lines?«, liest man in seiner 1876 erschienenen Jagd nach dem Schnark . »They are merely conventional signs!« Ref. 4
    Doch Carroll und Kraus waren ihrer Zeit voraus. Was machte die magnetische Anziehungskraft des Nordpols für alle anderen aus? »Kaum ein Ort der Welt war, seit es Menschen gibt, so unerreichbar und mythenbeladen wie der Nordpol«, lautet die übliche Antwort. Einerseits stimmt das natürlich. Schon bei den alten Griechen lassen sich Quellen auftreiben, die eine Sehnsucht nach dem hohen Norden dokumentieren. Auf der anderen Seite stimmt das vage »Schon-immer« jedoch genau nicht. Das geografische Phantom, dem Peary und Cook zwanghaft hinterher jagten, gibt es erst seit dem 19. Jahrhundert. Aber seit wann genau? Und warum?
     
    Die kleine Festgesellschaft, die sich im September 1909 in den Anlagen des Gothaer Schlosses versammelte, hätte auf diese Fragen vielleicht eine Antwort gewusst. Eine gemurmelte, etwas verstohlene Antwort womöglich, genau wie die Feierlichkeit, die man im Park beging. »In aller Stille«, so berichtete die lokale Presse, wurde ein Gedenkstein für den Kartografen August Petermann errichtet, der sich 1878 in Rufweite des Gothaer Schlosses das Leben genommen hatte. Zu Lebzeiten war er bekannt gewesen, in Fachkreisen sogar weltberühmt. Doch jetzt, eine Generation später, erinnerte das Denkmal an einen halb Vergessenen. Eigentlich hatte der Stein schon zu Petermanns dreißigstem Todestag errichtet werden sollen. Doch da es nur ein paar Verwandte waren, denen die Sache am Herzen lag, da Geld aufgetrieben und ein passender Bildhauer
gefunden werden musste, hatte sich alles verzögert. Im September 1909, als Pearys und Cooks Telegramme von der Eroberung des Nordpols um die Welt jagten, schien es dann plötzlich, als hätte die Geschichte selbst Regie geführt - obwohl sich der Reporter des Gothaischen Tageblatts zu einer solchen Schicksalsgläubigkeit nicht versteigen wollte: »Durch einen freundlichen Zufall«, schrieb er, »wurde die Aufrichtung des Denkmals möglich gerade zu der Zeit, in der uns die Nachrichten erreichten, dass eine von Petermanns Lieblingsideen, die Auffindung des geographischen Nordpols, Tatsache geworden sei.«
    Das ist sehr zurückhaltend formuliert. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war August Petermann der Motor, der die Entdeckung der Arktis auf Touren brachte. Für den Gothaer Kartografen war der Nordpol der Nabel der Welt und die Eroberung dieses Nabels die wichtigste Kulturaufgabe der Menschheit. Julius Payer, der österreichische Entdecker Ref. 5 von Franz Josephs Land, nannte Petermann den »Vater aller Expeditionen«. Jules Verne und Kurd Laßwitz machten ihn zur Romanfigur. Doch obwohl er zu Lebzeiten zur internationalen Polarprominenz gehörte, geriet Petermann nach seinem Tod bald in Vergessenheit. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Er war kein Held, der sich im Packeis einfrieren ließ. Als armchair explorer , wie man spöttisch in England sagte, als Lehnstuhleroberer dirigierte Petermann die Entdeckung des Nordpols von einer deutschen Provinzstadt aus und gelangte persönlich nie weiter nach Norden als bis Edinburgh. Deshalb blieb sein Ruf immer zweifelhaft. Für die einen war er der große Theoretiker, für die anderen der Spinner der Arktis. Kein Wunder, dass sich die Denksteinlegung im nervösen September 1909 in
aller Stille vollzog. Zumal Petermanns arktische Theorien in der Zwischenzeit widerlegt worden waren.
     
    Die Arktis gab das Terrain ab, auf dem sich das 19. Jahrhundert heroisch verausgabte. Doch dieser Verausgabung haftete von Anfang an etwas Unwirkliches an. Schon in den 1850er Jahren desavouierte die Londoner Times den Nordpol als »Spielzeug der Geografen«. Der alte Traum von der Nordwestpassage, vom kürzeren Seeweg nach Indien, der bares, koloniales Geld bedeutet hätte, war gerade
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