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Wie August Petermann den Nordpol erfand

Wie August Petermann den Nordpol erfand

Titel: Wie August Petermann den Nordpol erfand
Autoren: Philipp Felsch
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geplatzt. John Franklins Schiffe waren auf mysteriöse Weise zwischen Grönland und Labrador verschwunden, und Franklins Retter waren dort, wo die Durchfahrt liegen musste, auf undurchdringliches Packeis gestoßen. Die britische Admiralität gab ihren Schifffahrtsweg und die britische Öffentlichkeit ihren tragischen Helden verloren. Nur August Petermann, der junge Deutsche, der als Sekretär der Royal Geographical Society in der Hirnkammer des Empire saß, schrieb Memoranden über den »wahren« Aufenthaltsort von Franklin und trat dabei unversehens den Wettlauf zum Nordpol los. Ref. 6
    In der Petermannwelt, die dieses Buch betritt, war die Arktis eine Frage der Karte. Der Kartograf, den die Engländer instinktiv mit »Professor« anredeten, obwohl er nicht einmal einen Doktortitel besaß, war der Meinung, das größte geografische Rätsel seiner Zeit am Schreibtisch lösen zu können. Als Bewunderer Alexander von Humboldts schob er Strömungstabellen, Temperaturkurven und fiktive Landmassen hin und her und entwickelte dabei einen abenteuerlich anmutenden Rettungsplan. Seine »ernsthaften und besonnenen Berechnungen« - darauf legte er Wert - ergaben, dass sich rund um
den Nordpol ein offenes Polarmeer befinden müsse, in das Franklin mit seinen Schiffen eingedrungen sei. Wer ihn finden wolle, müsse Kurs auf den Nordpol selbst nehmen - ein in vielerlei Hinsicht lohnenswertes Ziel. Der Pol, erklärte Petermann, sei der »Schlüssel zu den physikalisch-geographischen Phänomenen der ganzen nördlichen Hemisphäre« und östlich von Spitzbergen leicht über offenes Wasser zu erreichen. Damit fand sich der alte Mythos vom glücklichen Land hinter den Nordwinden unversehens in die harte Währung einer wissenschaftlichen Theorie konvertiert. Wenn man die Strapazen und die Toten, die das nach sich zog, zusammenrechnet, erscheint diese Übersetzungsleistung wie ein tragischer Unfall der Kartografie. Ref. 7
    Die pragmatischen englischen Seeoffiziere schüttelten den Kopf. »Die Idee, dass Franklin und seine Begleiter ihre Zeit in der Nähe des Nordpols vertrödeln, ist zu absurd, um die geringste Erwägung zu verdienen«, schrieb die Times und verhöhnte Petermann als weltfremden »preußischen Weisen«. Als die Skepsis an seinen Plänen in offene Anfeindung umschlug, kehrte er London enttäuscht den Rücken und ging nach Thüringen zurück. Im Land der Dichter und Denker, wo man geübt darin war, die Welt im Kopf zu erobern, stieß die Theorie vom eisfreien Polarmeer auf offenere Ohren. Die deutschen und österreichisch-ungarischen Arktisexpeditionen der zweiten Jahrhunderthälfte waren auf der Suche nach Petermanns Gral. Selbst in den USA fanden seine Denkschriften und spekulativen Karten Beachtung. Dass eine Expedition nach der anderen sich im Packeis verrannte, statt in die grüne Polarsee zu stechen, war in den Augen des Nordpolprofessors umso schlimmer für das Packeis. »Ich werde so lange arbeiten«,
schrieb er, gegen wachsenden Widerstand, noch zu Beginn der 1870er Jahre, »bis alles bewiesen ist«.
    Das war spätestens seit dem Untergang des amerikanischen Dampfers Jeannette der Fall. Der sibirische Hungertod der ganzen Besatzung bewies, dass das offene Polarmeer nicht mehr als ein Kartentraum war. Die weitere Geschichte ist bekannt. Fridtjof Nansen, Kurator am Zoologischen Museum in Bergen, stolperte über die Meldung, dass Wrackteile der Jeannette an der Südküste Grönlands angespült worden seien. Er verstand es, die Reste der Katastrophe zu deuten, und drehte Petermanns Gleichung einfach um, er ersetzte offenes Wasser durch eine treibende Eisdecke und rohe Dampfkraft durch ein Schiff, das dafür konstruiert war, in den Schollen einzufrieren. Diesmal stimmte die Rechnung, obwohl Nansen seinen eigenen Versuch bei 86° nördlicher Breite abbrechen musste. Gut zehn Jahre später waren Peary und Cook seine zweifelhaften Vollstrecker.
    August Petermann durfte ihre Eroberung nicht mehr erleben. Wie es sich für Polarhelden gehört, starb er tragisch: Im September 1878, noch bevor die Nachricht vom Untergang der Jeannette eingetroffen war, schoss er sich eine Kugel durch den Kopf. Dass die Natur eines Tages gezwungen sein würde, seiner Theorie entgegen zu schmelzen, hatte er in seinen kühnsten Träumen nicht zu hoffen gewagt.
     
    Über die Entdeckung des Nordpols, über frierende Helden und verschollene Schiffe, existiert eine Unmenge von Literatur. Für die älteren Autoren stellte sich die Sache denkbar einfach
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