Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wie August Petermann den Nordpol erfand

Wie August Petermann den Nordpol erfand

Titel: Wie August Petermann den Nordpol erfand
Autoren: Philipp Felsch
Vom Netzwerk:
abwiegeln. Für die technischen Machbarkeitsträume fehlte ihm vielleicht das Gespür. Nur für die theoretischen Köpfe, die Mythologen, die Ursprungsdenker und Utopiker, hatte er naturgemäß eine Schwäche. Sie verkörpern die Geister, die Petermann mit seinen kühnen Hypothesen gerufen hatte: die Geister einer entfesselten arktischen Imagination. Zwischen ihren planetarischen Fantasien und seinen eigenen Theorien lag nicht mehr als eine überwachsene, grüne Grenze - ein wildes Terrain, von dem eine latente Infiltrationsgefahr ausging. Da ist zum Beispiel der Fall des Oldenburger Obergerichtsanwalts Adolph Gether. Als er von Petermanns Nordpolkampagne erfuhr, schickte er seine gerade in Kommission gedruckten Gedanken über die Naturkraft nach Gotha, einen wissenschaftlich-philosophischen Kraftakt, der auf dreihundert Seiten nicht weniger unternahm, als den Bauplan der Welt zu erklären. An dilettantischem Selbstbewusstsein mangelte es dem Autor keineswegs: »Gerade in den Naturwissenschaften«, erklärte er gleich am Anfang, »ist es aber dem in
hergebrachten Theorien nicht befangenen Laien in gewisser Beziehung leichter als dem Fachgelehrten, durch Nachdenken die Wahrheit zu ermitteln.« Noch zwei Generationen früher hätte Gether seinen Traktat vermutlich als philosophische Spekulation ausgeflaggt. Jetzt, in den 1860er Jahren, setzte er auf das Prestige, das die jungen Naturwissenschaften abstrahlten. Seine Vorliebe ist zeittypisch: Sie erklärt die Flut von szientistischem Schrifttum, die das 19. Jahrhundert hervorgebracht hat. Ref. 160
    Was der Anwalt in Buchlänge ausbreitete, waren seine weit reichenden theoretischen Folgerungen aus der Beobachtung einer Garnrolle und eines Blattes Papier. Die Details tun hier nichts zur Sache. Alle Naturkräfte, erklärte Gether sinngemäß, könnten auf Schwingungen elastischer Materie zurückgeführt werden. Mit dieser gewagten Annahme lag er voll im Trend seiner Zeit. Die große physikalische Sensation der Jahrhundertmitte, die Thermodynamik, besagte im Grunde etwas ganz Ähnliches: Laut Hermann von Helmholtz, der im Revolutionsjahr 1848 seinen bahnbrechenden Aufsatz Ueber die Erhaltung der Kraft veröffentlicht hatte, waren alle Naturkräfte - von der Gravitation bis zur Dampfmaschine - Manifestationen ein und desselben Kraftreservoirs, das bis an die Grenzen des Universums reichte und dessen Menge immer gleich blieb. Heute würden wir von Energie sprechen. Die Deutschen, die gerne Urwörter benutzten, sagten zu Petermanns Zeit auch »Urkraft« dazu. Sie reagierten wie elektrisiert. Die Thermodynamik wurde einer der Wissenschaftsschlager des 19. Jahrhunderts, sie schwappte rasch ins populäre Schrifttum hinüber und inspirierte eine Metaphysik der Kraft, die teils als Loblied der »Krafterhaltung«, teils als düstere Warnung vor den Gefahren der »Entropie« auftrat.

    Adolph Gether beschritt seinen eigenen Weg. Für ihn bestand die Urkraft aus Schwingungen, und diese Schwingungen brachten rotierende Materieblasen hervor. Gethers Materieblasen - und an diesem Punkt muss August Petermann beim Lesen aufgehorcht haben - wiesen immer einen identischen Bauplan auf: Sie waren im Innern hohl und an den »Polen«, dort, wo die Rotationsachse die Oberfläche durchstieß, mit Öffnungen versehen. Ob Regentropfen, Seifenblasen, Pflanzen, Menschen, Himmelskörper - organisierte Materie fügte sich stets in diese gleiche Form, auch wenn das Muster auf den ersten Blick oft hinter sekundären Strukturen verschwand. Beim Menschen waren die hohlen Verdauungsorgane mit Mund und Anus untrügliche Indizien. Und bei der Erde? Nun ja. Um diese Frage zu beantworten, hielt Gether eine Expedition zum Nordpol für notwendig. Die Theorie sah dort eine Pforte ins hohle Erdinnere vor, eine Pforte, hinter der die Entdecker auf eine »ganz andere Natur« stoßen würden. Mit »lebenden Wesen«, vielleicht Humanoiden, war zu rechnen, und vermutlich stand ein kleiner »Zentralkörper« im inneren Orbit und bestrahlte die Szenerie. Als Passage von Innen- und Außenwelt musste die Arktis zudem eine Zone höchster tellurischer Empfindlichkeit bilden. Der Anwalt nahm an, »daß die Polarringe die Orte der Erde sind, an welchem der größte Metallreichthum sich uns darbietet«. Die Spanier hatten ihr Eldorado sozusagen in der falschen Gegend gesucht. In Wirklichkeit lag es am Nordpol, und schon aus diesem Grund lohnte eine Reise dorthin. Laut Gether war sie leicht zu bewerkstelligen. Ref. 161
    Man müsse
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher