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When the Music's Over

When the Music's Over

Titel: When the Music's Over
Autoren: Myra Çakan
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Große Stadt. Jetzt hieß sie nicht mehr London, sondern nur noch die Speerzone. Im Dorf gaben sie ihr gar keinen Namen, sie hatte einfach aufgehört zu existieren.
    Der Junge lief nun über das Brachland, bückte sich und hob etwas Erde auf. Sie fühlte sich seltsam leicht und krümelig an, er hatte so etwas noch nie zuvor gesehen. Gedankenverloren steckte er die Brocken in die Tasche. Mittlerweile enthielt sein Anorak Erinnerungsstücke an jedes bedeutsame Ereignis in seinem Leben. Doch dass diese Nacht bedeutsam war, wusste er noch nicht. Er lief nur immer weiter in die Nacht und ließ seine Gedanken wandern.
    Garfield hätte gerne gewusst, ob noch Menschen in der Stadt lebten und woher das rote Leuchten rührte. Aber weder Alfredo noch Luciu kannten die Antwort. Und noch etwas war seltsam – es gab in dem ganzen Ort keine Kinder. Garfield fragte sich, ob sie von ihren Verwandten versteckt gehalten wurden. Und wenn ja, wovor – vielleicht vor den Vierfingern?
    Dem Jungen wurde plötzlich bewusst, wie wenig er eigentlich über die Besucher wusste. Aber wer wusste überhaupt etwas über sie? Putzige kleine Kerlchen, die in einer putzigen Sprache schnatterten. Anscheinend wusste niemand so genau, wo sie herkamen. Irgendein Witzbold brachte den Begriff Veganer auf – und der blieb dann hängen –, bis man einen genaueren Blick auf sie werfen konnte. Von da an hießen sie Vierfinger.
    In der Schule hatten sie »den Tag der Ankunft« in der Aula übertragen. Eine Menge wichtiger Leute redeten von wichtigen Dingen. Doch da sie es auf die umständliche, verschlüsselte Art der Erwachsenen taten, hörte Garfield schon bald nicht mehr richtig zu. Ob er einmal mit Luciu über die Vierfinger sprechen sollte? Und während er immer weiterlief, bekamen seine Schreckgespenster auf einmal ganz neue Gesichter.
    Sie kamen auf ihn zu, materialisierten mitten aus der Nacht. Zerlumpte Zombies, ja, das waren sie. Garfield kannte sie aus Filmen, die anzuschauen ihm immer verboten worden war und die er natürlich heimlich angekuckt hatte. Zur Strafe hatte er dann prompt fürchterliche Alpträume bekommen und alles gebeichtet. Und nun waren sie da, drangen in seine Welt ein und streckten die fleckigen Hände nach ihm aus. Er wusste es nicht, aber er sah zum ersten Mal in seinem Leben Opfer der »Krankheit« im dritten Stadium, dem letzten, vor dem tödlichen Koma.
    Er schrie und rannte und schrie. Die Gespenster schrien auch, gurgelnde Laute drangen aus ihren verfaulten Mündern. Garfield hatte nur einen Gedanken, als er über den holprigen Acker rannte: »Bitte, lass mich nicht stolpern, wenn ich hinfalle, kriegen sie mich.« Immer und immer wieder sagte er stumm seine Bitte auf. Sie wurde zu seinem Mantra und seine Füße klopften verbissen den Rhythmus dazu: »Bitte, lass mich nicht stolpern, wenn ich hinfalle, kriegen sie mich.«
    Doch noch sollte er nicht erfahren, wozu verzweifelte Menschen fähig sind. Alfredo und Luciu waren ihm gefolgt, und sie trugen Waffen. Sie schimpften nur gutmütig mit ihm. Und als er die Zombies wegrennen sah, weinte er vor Erleichterung.
    Vier Tage später hatten sie Tickets für die Überfahrt auf einem alten Hover in der Tasche, ihr Ziel war Hamburg. »Noch knapp drei Monate, dann kommen die Stürme und diesmal passiert’s«, sagte der Steuermann des Hovers. Und Garfield wusste, er sprach von der Flut.

    Eine fiebrige, erwartungsvolle Stimmung hing über der Stadt. Die Straßen waren voller Menschen, hektisch und unsicher zugleich – Hochwassertouristen –, die sich vor den Tarot-Buden und den Devotionalien-Läden drängten. Alle wollten schnell noch Geschäfte machen, Wanderprediger, fliegende Händler und die Vierfinger. Durch die Gassen von Spauli, dem Vergnügungsviertel der Stadt, flitzten kleine Vaporettos und drückten die behäbigeren Tretboote und Schuten zur Seite. Der Gestank und der Lärm waren unglaublich, und stündlich stieg der Wasserpegel. Alle redeten über die Große Flut, den ewigen Regen und die Vorzeichen, die allerorts sichtbar waren. Und dann wurde der Regen zu Schnee und das Wasser zu Eis und schon bald würden die Stürme kommen. In den Fenstern hingen Votiv-Bildchen von Chief Brody, dem Schutzheiligen der Meere, der die Bestie besiegt hatte – für die Seefahrer und Küstenbewohner dieser Welt, dadam, dadam.
    Auf dem öligen Wasser, zwischen den undefinierbaren Brocken aus organischem Abfall, Plastikmüll und zerdrückten Bierdosen, schaukelten kleine Totenlichter in
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