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Wesen der Nacht

Wesen der Nacht

Titel: Wesen der Nacht
Autoren: Brigitte Melzer
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etwas.«
    Dankbar griff ich danach, schraubte den Deckel ab und nahm einen Schluck. Schon bei unserer ersten Begegnung vor zehn Jahren war Pepper es gewesen, die dafür gesorgt hatte, dass es mir besser ging. Mom, Trick und ich waren damals gerade nach London gezogen. Bis dahin hatte ich mein ganzes Leben in einem einsam gelegenen Cottage in Duirinish verbracht und die Großstadt, mit ihrem Lärm und der Enge, überforderte mich vollkommen. Dass wir kein eigenes Haus mehr hatten, sondern in einem grauen Betonbunker mit unzähligen Wohneinheiten leben sollten, ließ mich in Tränen ausbrechen, sobald ich den grau gefliesten Hauseingang zum ersten Mal betrat. Mom und Trick schleppten die Kisten mit unseren Sachen ins Haus, keiner von ihnen bemerkte, dass ich mich davonstahl. Ich lief die Treppen hinauf, bis es nicht mehr weiterging, setzte mich oben auf die letzte Stufe und starrte vor mich hin, während mir die Tränen in Strömen über die Wangen liefen. Ich bemerkte das Mädchen mit den kupferroten Locken, den neugierig funkelnden grünen Augen und dem Puppengesicht erst, als es sich neben mich setzte.
    »W arum heulst du?« Pepper war schon als Sechsjährige ziemlich direkt gewesen.
    »A lles hier ist so grau und trist«, schniefte ich. »I ch vermisse das Gras und das Meer. Und den Himmel. Ich will nach Hause.«
    »K omm, ich zeig dir den Himmel.«
    Bevor ich wusste, wie mir geschah, packte sie mich an der Hand und zog mich den Gang entlang zu einer Feuerschutztür, die auf das Flachdach hinausführte. Dahinter lag ein kleines Paradies. Zumindest etwas, das meiner Vorstellung davon ziemlich nahe kam.
    Jemand hatte das Dach mit künstlichem Rasen ausgelegt und am Rand unterhalb der Dacheinfassung Blumenkästen und ein kleines Kräuterbeet aufgestellt. Der kleine Dachgarten wurde sofort zu meinem Lieblingsplatz, und Pepper, die auf unserer Etage wohnte, zu meiner besten Freundin. Durch sie fand ich in der Schule schnell Anschluss, trotzdem blieb sie immer die Allerwichtigste für mich. Daran hatte sich auch nichts geändert, als Mom und ich vor ein paar Monaten aus dem heruntergekommenen Mietshaus in ein Reihenhaus in Camden gezogen waren.
    Selbst nach zehn Jahren in London vermisste ich noch immer die schroffe schottische Küste, an der ich aufgewachsen war. Ich vermisste das Rauschen des Meeres, das Raunen des Windes und die Stille. In der Stadt war es ständig laut, es stank und immer war irgendwo etwas los. Immerhin hatte mir der Lärm, so wenig ich ihn mochte, geholfen, die Stimme aus meinem Kopf zu vertreiben. Jene Stimme, die der Grund dafür gewesen war, dass Mom mich hierher verpflanzt hatte. Meine Krankheit.
    In Gedanken versunken schraubte ich den Verschluss wieder auf die Flasche und gab sie an Pepper zurück. Sie stopfte sie in ihre Tasche und deutete auf die Treppe zu den U-Bahntunneln. »B ist du so weit?«
    Auch wenn die Übelkeit verflogen war und ich mich wieder vollkommen normal fühlte, behagte mir die Vorstellung nicht, nach unten zu gehen. Was, wenn mir wieder schlecht wurde, sobald wir in der U-Bahn waren? Die Strecke war nicht lang, nur noch eine einzige Station. Ich redete mir ein, dass ich das wohl hinbekommen würde. Andererseits war eine Station auch locker zu Fuß zu schaffen und der Gedanke an einen Spaziergang gefiel mir weit besser als die Vorstellung, mich wieder in einen vollgestopften Wagen zu zwängen.
    »L ass uns den Rest laufen.«
    Es war ein ungewöhnlich warmer Tag, die Hitze flirrte über dem Asphalt und am Himmel war kein Wölkchen in Sicht. In einer halben Stunde konnten wir am Tor von The Queen’s Green sein, der bewachten Wohnanlage, in die Mom und ich gezogen waren. Wenn es um unser neues Zuhause ging, schlugen zwei Seelen in meiner Brust. Einerseits tat es mir leid, nicht mehr so nah bei Pepper zu wohnen, andererseits mochte ich die weitläufige Anlage, in der wir jetzt lebten. Dort war von der Enge der Stadt nichts zu spüren. All der Lärm und die Hektik verschwanden, sobald man die Bäume hinter sich ließ, die das Grundstück umgaben. Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, woher das Geld stammte, mit dem Mom das Haus bezahlt hatte. Angesichts der Preise in London bezweifelte ich, dass es ein Schnäppchen gewesen war, doch wann immer ich sie danach fragte, lächelte sie nur und meinte, ich solle mir darüber keine Gedanken machen.
    Dass wir nicht mehr im selben Haus wohnten, hatte nichts daran geändert, dass Pepper und ich ständig zusammenhingen. Wenn das Wetter
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