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Wesen der Nacht

Wesen der Nacht

Titel: Wesen der Nacht
Autoren: Brigitte Melzer
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davonzukommen, musste er handeln, solange er sich noch auf dieser Seite der Grenze befand. Aber das Denken fiel ihm schwer. Die Enge und die Finsternis raubten ihm mehr und mehr die Sinne und drohten schon bald jeden klaren Gedanken im Keim zu ersticken.
    In der Dunkelheit mochte die Zeit anderen Gesetzen unterliegen, eines jedoch blieb gleich: Sie spielte noch immer gegen ihn. Das Silber verhinderte, dass sich seine Lebensenergie aufladen konnte, wie es draußen der Fall gewesen wäre. Wenn er keinen Weg in die Freiheit fand, würde sie mehr und mehr dahinschwinden. Damit wäre sein Ende besiegelt. Doch noch blieb ihm Zeit. Zwei Wochen mochten es sein– wenn er Glück hatte und mit seinen Kräften haushielt, ein wenig mehr. Es gab allerdings noch eine Möglichkeit.
    Caleridon streckte seinen Geist nach der einzigen Verbindung aus, über die er in dieser Welt verfügte. Einer Verbindung, die er vor Jahren verloren hatte und die nun seine letzte Hoffnung war.

1
    »S erena, ist alles in Ordnung?«
    Pepper hatte Mühe, mir durch das Gedränge die Stufen nach oben zu folgen, als ich aus dem U-Bahnschacht an die Oberfläche floh. Nur raus hier! Raus aus der Dunkelheit und der Enge. Ich brauchte Luft!
    Schwer atmend blieb ich vor der Treppe stehen, den Blick auf die Archway Tavern gerichtet, einen roten Ziegelbau mit weiß eingefassten Fenstern, der auf einer dreieckigen Insel zwischen zwei Straßen thronte. Ich starrte auf den Turm mit der Uhr, der sich in der Mitte des Daches erhob, verwundert darüber, dass ich das Ticken bis hierher hören konnte. Doch es war nicht die Uhr, es war mein eigener Herzschlag, der mir in den Ohren dröhnte.
    Mit weichen Knien wich ich dem Strom der Menschen aus, die hinter mir die Treppen nach oben drängten. Ich lehnte mich an das massive Metallgeländer neben dem U-Bahnaufgang und sog begierig die Luft ein. Dort unten, in der Enge des vollgestopften Zuges hatte ich geglaubt, ersticken zu müssen. Ohne Vorwarnung hatte ich zu zittern begonnen. Kalter Schweiß war mir auf die Stirn getreten, und mit einem Mal war mir so schlecht geworden, dass ich nur noch einen Gedanken kannte: Luft!
    Pepper hatte zu mir aufgeschlossen und blieb vor mir stehen. »B ist du sicher, dass es dir gut geht? Du bist weiß wie eine Wand!«
    Ich nickte. »M ir ist nur schlecht geworden. Hitzestau.« Tatsächlich war es für Mitte Juni erstaunlich warm und die Belüftung in der U-Bahn war, wie so oft, ausgefallen gewesen. Kein Wunder, wenn mir da schlecht wurde. Es ging mir auch schon besser, seit ich dem ratternden Waggon entkommen war. Alles, was blieb, war ein leichtes Frösteln, das mich überkam, sobald mir der Sommerwind über den verschwitzten Nacken strich. Unwillkürlich hob ich die Hand und fuhr mir über den Hals. Die drei Anhänger an meinem Bettelarmband, das Dad mir zum Geburtstag geschenkt hatte, klirrten leise. Das Geräusch beruhigte mich.
    Trotzdem wich ich Peppers besorgtem Blick aus. Meine Augen blieben an einem Typ hängen, der mit ans Ohr gepresstem Handy die Treppen nach oben lief und sich angeregt zu unterhalten schien. Hatte er mich gerade angesehen? Er war zwei oder drei Jahre älter als ich, vielleicht ein Student. Für einen Moment verstummte er, als er an Pepper und mir vorbeiging. Er musterte mich neugierig. Meine Güte, ich musste aussehen wie ein Wrack!
    Immerhin schenkte er mir ein kurzes, mitleidiges Lächeln, dann nahm er seine Unterhaltung wieder auf. »I ch bin auf dem Weg«, hörte ich ihn in sein Telefon sagen. Seine weiteren Worte gingen im Verkehrslärm unter, als er sich langsam entfernte.
    Pepper hingegen sah mich noch immer an.
    Ich seufzte. »E s geht mir gut, Peps. Wirklich. Mir wird nur seit einer Weile dauernd schlecht. Vielleicht habe ich mir einen Virus eingefangen oder mir den Magen verdorben.«
    »O der du bist schwanger.«
    Ich zog eine Augenbraue hoch. »V on nichts kommt nichts.« Du liebes bisschen, ich hatte nicht einmal einen Freund und ganz sicher niemanden, mit dem ich mich zwischen den Laken hätte wälzen können. Oder wollen. Nein, es war wohl eher irgendein fieser Virus.
    Manchmal war es nur ein kurzer Moment, in dem ich das Gefühl hatte, dass mir übel wurde, doch so schnell das Gefühl kam, war es auch wieder vorbei. Manchmal dauerte es Minuten, dann wurde es so schlimm, dass ich nur noch an Flucht denken konnte. So wie vorhin in der U-Bahn. Und fast kam es mir so vor, als könne ich der Übelkeit tatsächlich davonlaufen. Wie sonst ließ sich
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