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Bädersterben: Kriminalroman

Bädersterben: Kriminalroman

Titel: Bädersterben: Kriminalroman
Autoren: Kurt Geisler
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1 Gift

    Eine unheimliche Nacht wie diese hatte Hein Timm lange nicht mehr erlebt. Dabei hatte er in seinem Leben mehr als einmal das unbändige Wüten von Naturgewalten kennengelernt. Nicht nur auf der Arche Noah, einem dieser mächtigen hölzernen Pfahlbauten vor St. Peter-Ording, auf der er seit einigen Jahren Nachtwache schob und auf der er auch schon so manchen Sturm abgewettert hatte. Einmal musste er sogar mit einem Rettungshubschrauber der Marine herausgeholt werden, als die Wellenkämme bereits die Fensterfront zerschlugen. In Eiseskälte hatte er damals auf das Dach krabbeln und dort der Kälte trotzen müssen, bis der Hubschrauber ihn endlich aufgenommen hatte. Unter ihm hatte es die ganze Zeit gewackelt und gekracht, und es war lange Zeit nicht sicher gewesen, ob der Pilot den Wettkampf gegen die Naturgewalten für sich entscheiden würde.
    Die Pfahlbauten waren bei den Touristen äußerst beliebt. Schon als kleiner Junge hatte Hein zwischen dem mächtigen Pfahlgerüst gespielt und dort nach Krebsen und Muscheln gesucht. Sein Vater hatte ihm von der Errichtung des ersten Pfahlbaus vor dem Ersten Weltkrieg berichtet, den die Einheimischen schnell Giftbude nannten, weil es dort etwas ›givt‹, also gibt, nämlich Hochprozentiges. Hein hatte in seinem Leben immer wieder gestaunt, dass die Menschheit stets bei allem, was sie anstellte, erst einmal zusah, dass es etwas Alkoholisches zu trinken gab. An Bord seines Fischkutters war das früher nicht anders gewesen. Wie oft hatte er als Stift für seine Kollegen eine Buddel Köm, wie man den Weizenkorn hier nannte, holen gehen müssen?
    Inzwischen gab es in Sankt Peter fünf Ensembles mit je drei Pfahlbauten, jeweils ein Restaurant, einen Toilettenbau und eine Strandaufsicht. Davor waren kleine Holzpodeste errichtet, auf die nachts die Strandkörbe gestellt wurden, damit sie vor der Flut geschützt waren. Das reichte im Sommer meistens völlig aus, denn richtige Sturmfluten liefen hier erst im Herbst und im Winter auf. Dann waren die Strandkörbe aber längst abtransportiert. Spätestens im November gingen auch auf den Pfahlbauten die Schotten herunter. Sie wurden ausgeräumt, verriegelt und verrammelt. Dann bestand keine Notwendigkeit mehr, hier Wache zu schieben. Jetzt im Sommer trieben sich jedoch nachts zu viele Menschen am Strand herum, und Achim Pahl, der Pächter des Restaurants, war ein misstrauischer Zeitgenosse. Das war gut für Hein, denn so konnte er sich im Sommer an seinem Lieblingsplatz ein kleines Zubrot zu seiner kargen Rente verdienen.
    Er liebte die See und insbesondere das Wattenmeer. Durch den ständigen Sandflug konnte nie ein Hafen in St. Peter-Ording angelegt werden. So hatte er nach den wenigen Schuljahren als Kriegskind in Büsum das Handwerk des Fischers auf einem Krabbenkutter erlernen müssen, auf dem er mit seinen Kameraden so manches Unwetter auf der Nordsee abgeritten hatte. Doch wenn er auf dem Kutter arbeiten konnte, war er stets zufrieden gewesen, auch wenn sie manchmal im Sturm auf hohen Wellenbergen wie auf einer hin und her geschüttelten Nussschale durch die nasse Hölle geritten waren. Wollte er nach Hause zurück, hatte er sich 40 Kilometer auf dem Rad abstrampeln müssen, und auch das bei Wind und Wetter. Das war hart gewesen, aber darüber hatte er nie geklagt. Er hatte schlicht keine andere Wahl gehabt. In Sankt Peter hatte es keine Arbeit für ihn gegeben, denn auch die Landwirtschaft um den Ort herum herum warf nicht genug ab, da die Ländereien häufig versandeten und durch Überflutungen versalzten.
    Doch mit den Jahren war ihm die Arbeit immer schwerer gefallen, und er war froh, dass jetzt als Rentner für ihn die Plackerei ein Ende gefunden hatte. Wenn er schon nicht mehr auf einem Schiff arbeiten konnte, genoss er wenigstens hier oben auf der Arche trotz des Sturmes den nächtlichen Blick auf die weite See. Dann fühlte er sich auf dem Pfahlbau wie ein Kapitän auf großer Fahrt. Dabei hatte die gesamte letzte Woche über allerfeinstes Strandwetter geherrscht, und noch gestern in der Nacht zum Sonntag hatte sich ein wunderbarer runder Vollmond auf der glitzernden Wasseroberfläche der Nordsee präsentiert, der den endlos langen Strand in ein wunderbares fahles Licht getaucht hatte. Doch heute Mittag türmten sich im Westen urplötzlich und unerwartet Wolkenberge auf, und schon wenig später fegte ein heftiges Gewitter die aufgeschreckten Urlauber vom Wattenmeer über die Seebrücke nach Sankt Peter zurück.
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