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Wer sich nicht fügen will

Wer sich nicht fügen will

Titel: Wer sich nicht fügen will
Autoren: Leena Letholainen
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Die hat bestimmt mit Drogen zu tun. Bin ich in der Klinik überhaupt in Sicherheit? Hier kann doch jeder ein und aus gehen.«
    Ich trat ans Fenster und sah, dass das Mädchen mit den schulterlangen blonden Haaren die Augen aufgeschlagen hatte. Die eine Gesichtshälfte war verbunden. Sie hatte die Decke bis zum Hals hochgezogen, als wollte sie sich verstecken.
    »Trastuit. Vi gavarite pa russkij?«, fragte ich. Ihre Augenlider zitterten leicht, doch sie antwortete nicht. Ich beschloss, mit weiteren Fragen zu warten, bis wir unter uns waren.
    Die Stationsschwester kam herein und entschuldigte sich für die Enge. Sie bot uns ihr Büro an. Eine Schwesternhelferin schob das Bett über den Flur, Koivu und ich folgten ihr. Nachdem wir einige Stühle beiseite geschoben hatten, passte das Bett gerade noch zwischen Schreibtisch und Tür.
    Frau X machte ein abweisendes Gesicht. Ich stellte uns vor und fragte sie nach ihrem Namen. Sie gab keine Antwort. Auch auf die Fragen wer, warum und wo kam keine Reaktion. Allmählich kamen mir Zweifel, ob die junge Frau wirklich Russisch verstand. Vielleicht kam sie aus Polen oder Slowenien. Ich versuchte mein Glück mit Finnisch, Schwedisch, Englisch und Deutsch. Nichts. Die braunen Augen blieben starr auf die Bettdecke gerichtet, die schön geformten Lippen öffneten sich nicht. Nach einer Viertelstunde bat ich Koivu, das Zimmer zu verlassen. Vielleicht fürchtete sie sich vor Männern. Aber auch unter vier Augen kam ich nicht weiter. Frustriert machte ich mich auf die Suche nach dem behandelnden Arzt. Lohnte es sich überhaupt, eine Ermittlung einzuleiten, wenn wir nicht einmal mit Sicherheit wussten, ob ein Verbrechen vorlag?
    Der Stationsarzt meinte, die Verletzungen rührten von einem ungewöhnlich scharfen, kleinen Messer, vielleicht von einem Stilett.
    »Die Schnitte an der Wange und am Oberkörper könnten in verschiedenen Situationen entstanden sein, aber die Verstümmelung der Geschlechtsorgane deutet auf eine intime Beziehung zwischen Täter und Opfer hin«, spekulierte er. »Natürlich kann es sich auch um eine versuchte Vergewaltigung handeln, dann wäre der Sprachverlust vielleicht eine Schockreaktion. In der Vagina wurde kein Sperma gefunden, die Tat ist also nicht vollendet worden … Die Wunden sind ein bis zwei Stunden vor dem Auffinden der Patientin entstanden, das Blut war bereits leicht geronnen.«
    »Wie hoch war der Blutverlust?«
    Laut Auskunft des Arztes hatte die Unbekannte nur einen Beutel Plasma benötigt.
    »Hat die Frau irgendwelche besonderen Kennzeichen, Muttermale zum Beispiel, oder Tätowierungen?« Einen lebenden Menschen, der bei vollem Bewusstsein war, konnte man nicht untersuchen wie eine Leiche in der Pathologie. Andererseits konnten besondere Kennzeichen entscheidend zur Identifizierung des Opfers beitragen.
    Der Arzt blätterte in seinen Unterlagen. »Eine alte, nicht besonders sorgfältig vernähte Schnittwunde unter dem linken Schulterblatt. Keine weiteren Narben, keine Tätowierungen. Ein großes Muttermal auf der linken Gesäßbacke. Mindestens eine schlampig ausgeführte Abtreibung, auch das spricht für unsere Hypothese über die Herkunft des Mädchens. Die russischen Abtreibungskliniken sind heute noch wahre Folteranstalten.«
    »Drogenspuren im Blut?«
    »Diese teuren Tests machen wir nicht routinemäßig. Aber wenn Sie wollen, können wir das nachholen. Ein HIV-Test wurde natürlich vorgenommen. Im Übrigen macht das Mädchen einen gesunden Eindruck, alle Organfunktionen normal, Ernährung in Ordnung, gut trainierte Muskeln.«
    »Wo sind ihre Kleider?«
    »In ihrem Schrank.«
    »Brieftasche? Handy? Schlüssel?«
    »Nichts, aber ihr Schmuck liegt sicher in der Tischschublade an ihrem Bett. Ohne Genehmigung der Patientin dürfen Sie ihn aber nicht ansehen.«
    »Schmuck?«
    »Zwei Ringe und eine Kette mit Kreuzanhänger. Übrigens ein orthodoxes Kreuz.«
    Möglicherweise war in die Ringe etwas eingraviert. Ich überlegte, ob ich Hausfriedensbruch beging, wenn ich mir den Schmuck ohne Einwilligung seiner Besitzerin ansah. Wir verabschiedeten uns von dem Stationsarzt und gingen ins Krankenzimmer zurück. Das Mädchen lag mit geschlossenen Augen da. Die Frau mit den Locken ließ uns nicht aus den Augen, während die Patientin im mittleren Bett immer noch schlief. Ich bat das Mädchen zuerst auf Finnisch, dann auf Russisch um die Erlaubnis, mir ihren Schmuck ansehen zu dürfen. Als sie nicht reagierte, öffnete ich die Schublade. Da riss das
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