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Wer sich nicht fügen will

Wer sich nicht fügen will

Titel: Wer sich nicht fügen will
Autoren: Leena Letholainen
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EINS
    Die Frau stand am Straßenrand. Die hochhackigen Vinylstiefel endeten eine Handbreit unter dem Saum ihres Minirocks, das enge Top verhüllte kaum ihre Brüste. Ihr Lächeln wirkte verführerisch, aber auch unsicher: Sie konnte nie wissen, was für ein Typ der nächste Freier war. Plötzlich hielt ein Wagen. Am Steuer saß Richard Gere.
    Ich schaltete um. Zum dritten Mal »Pretty Woman«, nein danke. Die Alternativen waren allerdings auch nicht berauschend: Zeitfahren in der Formel 1, Reality-TV-Abenteuer, ein Quiz, bei dem es hauptsächlich darum ging, die Teilnehmer miteinander zu verkuppeln. Ich trank meinen Tee aus und schaltete den Fernseher ab.
    Die Kinder schliefen längst. Ich vergewisserte mich, dass sie atmeten. Venjamin, unser drei Monate altes Katzenbaby, hatte sich am Fußende von Iidas Bett zusammengerollt und fauchte leise, als ich es hinter dem Ohr kraulte. Ich fühlte mich einsam. Ich rief Antti an, aber er hatte das Handy ausgeschaltet, obwohl es erst halb zehn war.
    Meine Freunde wollte ich um diese Zeit nicht mehr stören, denn sie hatten entweder kleine Kinder oder mussten morgens früh raus.
    Mit fiel nichts Besseres ein, als Koivu anzurufen, der an diesem Abend den Bereitschaftsdienst für unser Dezernat versah. Er war ein paar Jahre jünger als ich und nicht nur mein Kollege, sondern auch ein guter Kumpel. Wir arbeiteten schon seit Jahren zusammen, zuerst in Helsinki, dann in Nordkarelien und jetzt in Espoo.
    »Maria hier, grüß dich. Liegt was Besonderes an?«
    »Ein Notruf, zu den Janatuinens in der Aapelinkuja. Ist ja auch schon einen Monat her, seit wir zuletzt da waren. Beide stockbesoffen. Jetzt hocken sie in der Ausnüchterungszelle, die Kinder haben wir wieder mal ins Heim gebracht. Kann man den Alten nicht endlich das Sorgerecht entziehen?«
    »Wenn die Eltern morgen früh wieder in Reue zerfließen und niemand Anzeige erstattet und wenn …«
    »Ja, ja«, seufzte Koivu. »Ist das Recht der Eltern in diesem Land wirklich so unumstößlich, dass man nichts für die Kinder tun kann?«
    Ich gab ihm keine Antwort. Über dieses Thema hatten wir schon oft gesprochen. Mein Kollege und seine Frau Anu Wang-Koivu, die auch Polizistin war, hatten sich in kurzen Abständen drei Kinder zugelegt, das jüngste war erst zwei Monate alt. Die Vaterrolle hatte Koivu gegenüber allem, was Kinder betraf, dermaßen übersensibel gemacht, dass ich ihn gelegentlich beschwichtigen musste.
    »Sonst gibt es nichts?«
    »Doch, eine schlimm zugerichtete Frau. Sie ist in die Klinik eingeliefert worden, mit Schnittwunden am ganzen Körper, im Gesicht und an den Geschlechtsorganen. Keine Ausweispapiere, versteht offenbar kein Finnisch. Das Klinikpersonal vermutet, dass sie aus Russland oder einem der Nachbarländer stammt. Bevor die Narkose einsetzte, hat sie etwas geschrien, das sich russisch oder so ähnlich anhörte. Es hat fast zwei Stunden gedauert, die Wunden zu nähen.«
    »Wo wurde sie gefunden?«
    »Auf einem unbebauten Grundstück in der Nähe des Espooer Zentrums. Ein Hund hat beim Gassigehen das Blut gerochen. Nach Spuren wird noch gesucht.«
    Ich dachte an die Filmszene, die ich gerade gesehen hatte.
    »Wie war sie gekleidet?«, fragte ich.
    »Winterstiefel und Pelzmantel«, erwiderte Koivu. »Darunter gar nichts, nicht mal Unterwäsche.«
    Seltsam. Wenn es sich um eine Prostituierte handelte, die von ihrem Zuhälter misshandelt worden war, stellte sich die Frage, warum er ihr Mantel und Stiefel angezogen hatte, statt sie nackt in der eiskalten Märznacht liegen zu lassen. Hatte er der Frau nur einen Denkzettel verpassen wollen und war, aus welchem Grund auch immer, zu weit gegangen?
    »Bist du noch dran?«, riss mich Koivus Stimme aus meinen Gedanken. »Die Ärzte meinen, wir können die Frau morgen vernehmen. Von einem Unfall stammen die Verletzungen nicht, so viel steht fest.«
    »Dann bestell schon mal einen Dolmetscher. Bist du auch für die Frühschicht eingeteilt?«
    »Ja. Wann kann ich eigentlich meine Überstunden abfeiern?«
    »Du weißt doch, was bei uns los ist.«
    Ich legte auf und schimpfte leise vor mich hin. In unserem Dezernat waren zwei Stellen unbesetzt. Lähde, der schon länger im Haus war als ich, bezog seit Anfang des Jahres Erwerbsunfähigkeitsrente, die zweite Stelle stand bereits seit zwei Jahren offen. Ursula Honkanen hatte nur eine befristete Anstellung, die alle drei Monate verlängert wurde, bis Anu Wang-Koivu aus dem Mutterschaftsurlaub zurückkam.
    Die Senkung der
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