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Wer einmal lügt

Wer einmal lügt

Titel: Wer einmal lügt
Autoren: H Coben
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die Kamera einbauen lassen – er funktionierte ganz ähnlich wie das, was die meisten Leute in ihren Foto-Handys hatten –,der neue Fotos von seiner SD -Speicherkarte alle zehn Minuten automatisch per E-Mail verschickte.
    »Deshalb ruf ich an«, sagte Fester. »Ich brauch die Fotos sofort. Such fünf aus und schick sie mir noch heute Nacht. Iras Dad will unseren neuen Bar-Mizwa-Briefbeschwererwürfel schon morgen haben.«
    In den Fernsehnachrichten schwenkte die Kamera langsam über die »Meteorologin«, eine üppig gebaute, junge Frau in einem engen roten Pullover. Ein echter Quotenköder. Als die heiße Braut mit der Erläuterung des Satellitenfotos fertig war und wieder an den zu gut frisierten Sprecher übergab, fielen Ray die Augen zu.
    »Ray?«
    »Fünf Fotos für einen Briefbeschwererwürfel.«
    »Genau.«
    »Ein Würfel hat sechs Seiten«, sagte Ray.
    »Hey, nicht übel, bist ja ein echtes Mathe-Genie. Auf die sechste Seite kommen der Name, das Datum und ein Davidsstern.«
    »Okay.«
    »Ich brauch es sofort.«
    »Geht klar.«
    »Dann ist ja alles bestens«, sagte Fester. »Außer, na ja, du kannst morgen nicht ohne Kamera zu George Queller. Aber keine Sorge, ich find schon was für dich.«
    »Also kann ich jetzt in Ruhe schlafen?«
    »Du bist schon ein komischer Kerl, Ray. Schick mir die Fotos. Und dann hau dich hin.«
    »Ich bin echt gerührt, wie herzlich du dich um mich kümmerst, Fester.«
    Sie legten auf. Ray sank wieder auf die Couch. Die Tablette wirkte wunderbar. Beinah hätte er gelächelt. Im Fernsehen verkündete der Nachrichtensprecher mit Grabesstimme: »Der ortsansässige Carlton Flynn wird vermisst. Sein Auto wurde verlassen mit geöffneter Tür in der Nähe des Piers …«
    Ray öffnete ein Auge und spähte auf den Fernseher. Dort erschien das Foto eines gerade erwachsen gewordenen Jugendlichen mit einem Kreolen-Ohrring und hochgegelten kurzen Haaren mit blonden Strähnen, der die Lippen zu einem Kussmund gespitzt hatte und direkt in die Kamera sah. Unter dem Bild stand »Vermisst«, wobei »Schwachkopf« es vermutlich besser getroffen hätte. Ray runzelte die Stirn, weil ein vages Gefühl in seinem Hinterkopf nagte, das er aber nicht zuordnen konnte. Sein ganzer Körper sehnte sich nach Schlaf, aber wenn er die fünf Fotos nicht schickte, würde Fester noch einmal anrufen, und das konnte er jetzt wirklich nicht gebrauchen. Unter größter Anstrengung rappelte Ray sich auf, taumelte zum Küchentisch, fuhr den Laptop hoch und sah nach, ob die Fotos wirklich auf seinem Computer angekommen waren.
    Das waren sie.
    Das beunruhigende Gefühl nagte immer noch in seinem Hinterkopf, aber Ray wusste nicht, was es bedeutete. Vielleicht störte ihn nur irgendeine Kleinigkeit. Vielleicht erinnerte er sich aber auch an etwas wirklich Wichtiges. Oder vielleicht waren durch den Schlag mit dem Baseballschläger auch nur ein paar Fragmente vom Knochen abgesplittert, die jetzt in seinem Gehirn herumscheuerten.
    Die Bar-Mizwa-Fotos erschienen in umgekehrter Reihenfolge – das zuletzt gemachte zuerst. Ray sah schnell die Thumbnails durch und entschied sich für ein Tanzfoto, ein Familienfoto, eins mit der Tora, eins mit dem Rabbi und eins, auf dem Ira einen Wangenkuss von seiner Großmutter bekam.
    Das waren fünf. Er schickte eine ansonsten leere E-Mail mit diesen Fotos im Anhang, gab Festers Adresse ein und klickte auf Senden. Erledigt.
    Ray war so müde, dass er nicht wusste, ob er vom Stuhl hochkommen und es bis ins Bett schaffen würde. Er überlegte, ob er den Kopf einfach auf den Küchentisch legen und in der Haltung schlafen sollte, als ihm die anderen Fotos auf der Speicherkarte einfielen. Die Fotos, die er vor der Bar-Mizwa gemacht hatte.
    Überwältigende Trauer breitete sich in seiner Brust aus.
    Ray war wieder einmal in dem verdammten Park gewesen und hatte Fotos gemacht. Idiotisch, aber er machte es jedes Jahr. Warum, konnte er nicht sagen. Oder vielleicht hätte er es doch sagen können, aber das würde es nur noch schlimmer machen. Der Blick durch das Kameraobjektiv schaffte etwas Distanz, setzte alles in Perspektive und gab ihm so eine relative Sicherheit. Vielleicht war es das? Vielleicht half es ihm, diesen furchtbaren Ort aus einem eigenartig beruhigenden Blickwinkel zu sehen – vielleicht änderte sich dadurch etwas, das natürlich eigentlich nicht zu ändern war.
    Als Ray sich auf dem Laptop die Fotos ansah, die er vor der Bar-Mizwa gemacht hatte, fiel ihm noch etwas anderes ein.
    Ein
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