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Diebe

Diebe

Titel: Diebe
Autoren: Will Gatti
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    Die Stadt ist ein Glutofen.
    In dieser Stadt ist es immer glühend heiß.
    Der große Fluss ist zu einem Rinnsal aus braunem Wasser ausgetrocknet. In den Hafenanlagen ging es einmal geschäftig zu, jetzt liegen hier die Geister der Schiffe vor Anker und ihre Rümpfe rosten im Schlamm. Obwohl das Meer nur ein paar Kilometer entfernt ist, gehen dort nur die Reichen hin; nur die Reichen können überallhin: hinunter zu den weißen Stränden, hinauf zu ihren Farmen oder fort in fremde Länder. Aber wenn sie sich in der Stadt aufhalten, haben sie’s immer kühl – in ihren kühlen Büros mit den getönten Fensterscheiben, in ihren kühlen Gärten, in denen das Wasser zischt, in ihren kühlen Läden mit den Marmorböden und der Luft, die ihre glatten Gesichter so kühl wie Seide umweht.
    Die Stadt ist ein Glutofen.
    Aber in den Straßen der besseren Viertel wimmelt es noch immer von Menschen, die sich durch die Hitze schieben. Die Autos kriechen langsam dahin, und die Polizisten – harte Typen mit weißen Hüten, weißen Handschuhen und schwarzen Sonnenbrillen – beobachten die Wagen und die Menschen, sie achten darauf, ob es irgendwo Ärger gibt, und haben ein Auge auf Schmuddelkinder, die besser in ihrem eigenen Viertel bleiben und nicht hier in der Nähe der schicken Läden herumlungern sollten.
    Aber das Mädchen sehen sie nicht, das ist nämlich zu schlau, um bemerkt zu werden. Sie weiß, wie man sich anzieht und wo man sich hinzustellen hat. Sie weiß, wie man sich durch die schwitzende Menschenmenge bewegt. Vielleicht hängt sie sich gerade an die Frau da, die ihre Mutter, oder den Mann dort, der ihr Vater sein könnte. Sie weiß, wie man ein so unschuldiges Gesicht macht, dass es keinem auffällt, wenn sie den Blick auf die pralle kleine Handtasche der Frau oder auf die dicke Brieftasche des Mannes richtet, die sich unter seinem Jackett abzeichnet. Sie weiß, wie man sich ernst und vernünftig gibt, ganz wie ein braves Kind.
    Vielleicht ist sie ja wirklich ein braves Kind.
    Sie ist etwa zwölf Jahre alt, aber so genau weiß sie es selber nicht, genauso wenig wie sie weiß, welches ihr richtiger Name ist oder wo sie herkommt. Sie hat dunkle, mattbraune Haut, ganz anders als die echten Stadtmenschen, von denen manche so blass sind, dass sie fast weiß aussehen. Angeblich kommt sie irgendwo aus dem Landesinnern, aber weil sie keine Angehörigen hat, lässt sich das nicht mit Sicherheit sagen.
    Demi hat sie aufgelesen. Sie lag schlafend irgendwo auf offener Straße und war, so behauptet er jedenfalls, nicht größer als ein Sack Süßkartoffeln. In Basquat war das, wo die Kleinbauern ihre Marktstände haben. So ist sie auch zu ihrem Namen gekommen. Fay hat ihn ihr gegeben. »Du brauchst unbedingt einen Namen, Kindchen«, meinte sie. »Wie soll ich dir irgendwas sagen, wenn du ohne Namen rumläufst? Wenn du’s bis zum nächsten Essen schaffen willst, dann musst du kommen, wenn ich dich rufe.« So wurde sie von Fay und Demi eine Zeit lang Basquat genannt. Irgendwann meinte Demi aber, sie könne keinen Namen haben, der länger ist als sie selbst, und darum hieß sie von da an Baz.
    Sie hat keine Familie, es sei denn, man würde Fay und Demi als ihre Familie ansehen. Demi wäre dann so etwas wie ein Bruder und Fay vielleicht so etwas wie eine große Schwester. Fay ist der kluge Kopf bei ihnen, sie ist für die Versorgung zuständig und sagt ihnen, wohin sie gehen und wonach sie ausschauen sollen. Sieben Jahre sind sie inzwischen zusammen, sieben Jahre, seit Baz von Demi aufgelesen wurde und Fay ihr den Namen gegeben hat. Sieben Jahre, in denen jeder auf den anderen aufgepasst hat.
    Jetzt passt gerade mal wieder Baz auf Demi auf. Sie hält für ihn die Augen offen, versucht mögliche Gefahren zu erkennen, während er die eigentliche Arbeit macht und sich wie ein Aal durch das träge Menschenmeer schlängelt. Er ist sehr geschickt, sehr schnell, sehr flink. Da – schon hängt er dicht an dem einen oder anderen Mann dran oder an der Dame dort mit der baumelnden großen Tasche über der mageren Hüfte, und er ist dabei nicht mehr als ein Schatten. Einmal geblinzelt und schon ist er wieder fort. Wie eine Spielkarte: Schaut man sie an, zeigt sie einem ihr Gesicht, dreht man sie aber um, zeigt sie gar nichts mehr, und steckt man sie durch einen Türspalt, ist sie verschwunden. So ist Demi. Manchmal hat Baz das Gefühl, er ist gar kein Junge, sondern ein Rauchfähnchen.
    Da! Schon passiert. So geschickt, dass keiner etwas
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