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Wer Boeses saet

Wer Boeses saet

Titel: Wer Boeses saet
Autoren: Olivier Descosse
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Mal etwas höher. Zunächst suchte er ihn unmittelbar bei seiner Kompetenz zu packen, bei seiner ethischen Einstellung und der Wichtigkeit, die er seinem Beruf beimaß. Wie weit ging sein Engagement? Was wäre er für seine Klienten zu tun bereit? Welchen Teil seiner selbst würde er bereitwillig für den Erfolg der Analyse opfern?
    François ließ sich davon überhaupt nicht beeindrucken. Durch sein Schweigen gab er ihm zu verstehen, dass er nicht bereit war, sich auf solche Spielchen einzulassen. Sein Patient ließ aber nicht locker und spannte den Bogen immer noch etwas weiter.
    »Sagen Sie, Doktor: Was würden Sie eigentlich tun, wenn ich Ihnen mitteilte, dass ich vorhabe, einen Menschen umzubringen?«
    Keine Antwort.
    »Würden Sie versuchen, mich von meinem Vorhaben abzubringen, oder würden Sie mich bei der Polizei anzeigen?«
    Immer noch keine Antwort.
    »Sie sind ja nicht gerade sehr gesprächig … Muss ich daraus schließen, dass das Schicksal Ihrer Mitmenschen Ihnen gleichgültig ist?«
    Schließlich kommentierte François die Sache mit einem:
    »Es geht hier um Sie, nicht um mich.«
    »Aber gewiss doch. Und wenn ich Ihnen sagen würde, dass ich einen Ihrer Angehörigen umbringen werde … Ginge es dann immer noch um mich?«
    François ließ sich nicht aus dem Konzept bringen und reagierte auf den Angriff mit einem Ausweichschritt.
    »Wen möchten Sie denn Ihrer Meinung nach wirklich umbringen? Mich oder sich selbst?«
    Das kommentierte der Mann nur mit einem hämischen Lachen. Zur nächsten Sitzung erschien er nicht. Und zur übernächsten auch nicht. Vierzehn Tage später wurde in der Nähe von Puteaux am Ufer der Seine eine Frauenleiche angeschwemmt. Erwürgt mit einer Klaviersaite. Der Mörder hatte so fest zugezogen, dass die Saite ins Fleisch geschnitten und den Hals bis zur Wirbelsäule durchtrennt hatte.
    Die Polizei konnte das Opfer anhand der Papiere in der Handtasche sofort identifizieren. Es handelte sich um eine vierunddreißig Jahre alte Frauenärztin, die in der Geburtshilfeabteilung des Hôtel-Dieu arbeitete.
    Ihr Name: Diane Marchand.
    Als die Polizei François mitten in der Nacht aus dem Schlaf holte, glaubte er noch, Diane hätte Nachtschicht im Krankenhaus. Die Nachricht traf ihn so hart, dass er zusammenbrach. Nachdem er eine Weile in einer Art Dämmerzustand verbracht hatte, waren ihm die Worte seines Patienten wieder in den Sinn gekommen. Worte, deren Tragweite er damals nicht erkannt hatte. Für ihn hatte es sich bloß um den x-ten Manipulationsversuch gehandelt, um einen weiteren Test, wie er es bei Therapien mit narzisstischen Perversen immer wieder erlebt hatte.
    Trotz seines erbärmlichen Zustandes schaffte er es, die Ermittler über diese Dinge in Kenntnis zu setzen. Die Männer von der Brigade zur Kriminalitätsbekämpfung hörten sich seine Schilderungen kommentarlos an. Sie sahen ihn vernichtend an und überließen ihn dann seinem Schicksal.
    Als man den Verrückten kurz darauf zur Rede stellte, gab er auf der Stelle alles zu. In seinem Geständnis schob er seinem Arzt den schwarzen Peter zu. Er habe ihn ja gewarnt. Jetzt wisse sein Therapeut, was der Preis dafür sei, wenn man immer unbedingt der Klügere sein wolle. François ging auf diese Provokation nicht ein und konzentrierte sich ganz auf die Formalitäten. Die Auswahl des Sarges, die Beerdigung, die Beileidskarten. Mit dem Bestattungsritual kann man das Leid auf Distanz halten. Zumindest eine Zeit lang. Später dann, wenn alles vorbei ist, kommt der Bumerang zurück und erwischt einen mitten im Gesicht.
    Der Schock war heftig. Plötzlich war ihre Abwesenheit allgegenwärtig, spürbar bei jeder alltäglichen Verrichtung. Ein Foto, ein Gegenstand, ein leiser Parfümduft im Badezimmer … Alles erinnerte ihn an sie. Die Trauerzeit begann, ein langer Weg, gesäumt von Reue, Gewissensbissen und Leid.
    Denn er betrauerte nicht nur Dianes Verlust, sondern hatte auch das unbestimmte Gefühl, sich selbst abhandengekommen zu sein. Er hatte sich geirrt. Und sein Irrtum hatte dramatische Folgen gehabt. Plötzlich wurde alles wieder in die rechte Perspektive gerückt. Auf brutale Art und Weise waren ihm die Grenzen seines Hochrisikoberufes aufgezeigt worden, in dem das kleinste Schweigen sich in eine gefährliche Waffe verwandeln konnte.
    Eine Waffe, die auch Charlotte zerstört hatte.
    Als sie von dem Drama erfuhr, flüchtete sie sich in einen beängstigenden Mutismus. Obwohl sie erst neun Jahre alt war, hatte sie weder eine
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